«Adipositas-Prävention beugt auch Schlaferkrankungen vor»

Es gibt keinen Prozess im ganzen Körper, der nicht vom Schlaf abhängt. Schlafstörungen sind weit verbreitet und gehen mit zahlreichen Erkrankungen einher, beispielsweise mit Depressionen oder Suchterkrankungen. Bessere Aufklärung, systematisches Screening in Kliniken und besser ausgebildete Fachpersonen könnten vielen betroffenen Menschen helfen, so der Schlafforscher Albrecht Vorster im Interview. Für einen guten Schlaf empfiehlt er ausreichend Tageslicht und regelmässige Schlafzeiten.

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Artikeldetails

Wie definieren Sie guten Schlaf?

Albrecht Vorster: Guter Schlaf hängt von acht Komponenten ab:

  • Er ist ausreichend.
  • Er ist mehr oder weniger durchgängig, wird also nicht die ganze Zeit gestört.
  • Er findet zu regelmässigen Zeiten statt und dauert immer etwa gleich lang. Man sollte also jeden Tag etwa zur gleichen Zeit ins Bett gehen und auch immer zur gleichen Zeit aufstehen.
  • Morgens sollten wir ein positives, subjektives Schlafempfinden haben. Wenn wir eine Nacht als gut empfinden, sagt das durchaus etwas über den Schlaf aus.
  • Guter Schlaf hält uns tagsüber ausreichend wach und wir schlafen nicht ungewollt beim Lesen oder in Besprechungen ein.
  • Guter Schlaf ist schnarchfrei. Schnarchen ist die häufigste Schlaferkrankung. Das Wichtigste ist, dass wir in der Nacht eine gute Atmung ohne Atemaussetzer haben.
  • Wir sollten auch nicht weitere Schlaferkrankungen haben. Darunter versteht man abendliche Missempfindungen mit Bewegungsdrang in den Beinen, also das Restless-Legs-Syndrom (RLS), oder Albträume.
  • Guter Schlaf findet nachts zu einem Zeitpunkt statt, der zu unserem Chronotyp passt.

Sie sagen, guter Schlaf sei ausreichend. Was heisst das denn?

Dass wir am Wochenende keinen Schlaf nachholen müssen. Oder auch, dass wir die erste Woche im Urlaub nicht nachschlafen müssen. Dann scheint der Schlaf ausreichend zu sein. Wieviel das konkret ist, ist sehr unterschiedlich. Es gibt durchaus Menschen, die mit fünf Stunden Schlaf täglich glücklich und zufrieden sind. Der Durchschnittsmensch schläft etwa sieben Stunden. Und als gesund bezeichnen grosse Studien etwas zwischen sechs und acht Stunden. Tatsächlich ist Schlaf über acht Stunden mit zusätzlichen Gesundheitsrisiken verbunden.

Zu lange schlafen ist also auch nicht gut?

Viele der Patienten, die zu uns kommen, liegen zu lange im Bett. Sie probieren z.B. acht Stunden zu schlafen, was ihnen aber nicht gelingt, da ihr Schlafbedarf nur bei sechs oder sieben Stunden liegt. Dann liegen sie wach im Bett und sorgen sich. Daher ist zu lange schlafen häufiger problematischer als etwas zu kurz zu schlafen.

Warum ist Schlaf so zentral für unsere Gesundheit?

Der Schlaf ist zentral für den ganzen Körper. Als erstes bekommen wir mit, wie zentral Schlaf für das Funktionieren des Gehirns ist. Fehlt der Schlaf, werden wir unkonzentriert, fällen schlechte Entscheidungen, unsere Stimmung ist beeinträchtigt. Sehr häufig gehen Schlaferkrankungen psychiatrischen Erkrankungen voraus, insbesondere Depressionen.

Schlaf ist auch zentral für den Stoffwechsel?

An den Schlaf sind ganz viele wichtige Stoffwechselprozesse gekoppelt. Zum einen fällt nachts der Blutdruck ab, sodass sich die Gefässwände regenerieren können. Können sie das nicht, droht Arteriosklerose. In der Nacht wird Wachstumshormon ausgeschüttet, zwei Minuten, nachdem wir in die erste Tiefschlafperiode fallen. Wenn wir die Nacht durchmachen, wird die Regulation von Insulin, Hunger und Sättigungshormon gestört. Dann steigt das Risiko, eine Diabetes Typ 2 zu entwickeln oder dickleibig zu werden. Das beobachten wir insbesondere bei Schichtarbeitenden, die öfter von solchen Erkrankungen betroffen sind als die restliche Bevölkerung: Sie bewegen sich eigentlich ausreichend, aber zur falschen Zeit. Und sie schlafen zu wenig und unregelmässig.

Welche Rolle spielt Schlaf für das Immunsystem?

Darauf hat Schlaf eine massive Wirkung: Das Immunsystem braucht den Schlaf nicht, um sich auszuruhen, sondern um «hoch zu kochen». In der Nacht ist das Immunsystem besonders aktiv. Das führt dazu, dass sich die Immunzellen in den Lymphknoten treffen und sich gegenseitig zeigen, was sie tagsüber an Eindringlingen gefangen haben. So bildet sich das immunologische Gedächtnis. Das heisst, der Impfschutz bildet sich über Nacht. Wenn wir nach einer Impfung nicht schlafen, haben wir ein Jahr später einen schlechteren Impfschutz. Dieser Prozess bezieht sich nicht nur auf Feinde von aussen, sondern auch Feinde von innen, insbesondere Tumorerkrankungen.

Heisst das, guter Schlaf beugt Krebs vor?

Das Immunsystem ist wichtig, um entartete Körperzellen aufzufinden. Wenn es nachts in seinen Aufgaben gestört wird, kann es diese Tumorzellen nicht gut finden. Daher ist Schichtarbeit auch ein anerkanntes, von der WHO klassifiziertes Karzinogen.

Es gibt eigentlich keinen Prozess im ganzen Körper, der nicht vom Schlaf abhängt. Ein wichtiger Faktor des Schlafes ist unser Tag-Nacht-Rhythmus. Etwa 30 Prozent aller Gene, die in jeder Körperzelle aktiv sind, sind zeitgesteuert. Die hängen von einem guten Körperrhythmus ab. Da sieht man einen riesigen Einfluss, so dass es kein Organ gibt, das nicht durch Schlafprobleme in Mitleidenschaft gezogen würde.

Nun leidet aber über ein Drittel der Bevölkerung an Schlafproblemen. Könnte man dem auf gesellschaftlicher Ebene vorbeugen?

Die mit Abstand wichtigste Präventionsmassnahme wäre die Anpassung der Ernährungsindustrie. Wir haben ein riesiges Problem mit Übergewicht, immer mehr Menschen sind übergewichtig. Tatsächlich ist Übergewicht einer der grössten Risikofaktoren für die Entwicklung von Schlaferkrankungen, insbesondere für Atemaussetzer im Schlaf. Schlafapnoe ist die häufigste Schlaferkrankung. Aber auch die anderen Schlaferkrankungen nehmen mit Übergewicht zu. In der Schweiz sind insgesamt 40 Prozent der Bürger übergewichtig (BMI über 25). 20 Prozent der Bürger sind mit einem BMI von über 30, sogar krankhaft adipös.

Albrecht Vorster
Albrecht Vorster ist Leiter des Swiss Sleep House Bern am Inselspital.

Welche anderen Massnahmen würden Sinn machen?

Wir müssen Schlaferkrankungen in die medizinischen Curricula aufnehmen. Aktuell kommt der Schlaf im ganzen Medizinstudium mit einer einzigen Stunde vor. Es gibt keinen Facharzt für Schlafmedizin. Unter den 40 Fachärzten, die es in der Schweiz oder auch in Deutschland gibt, gibt es keinen Facharzttitel für Schlaf. Nur eine Zusatzqualifikation. Somit fehlen Lehrstühle für Schlafmedizin sowie Professuren, die dieses Thema unterrichten. Aufgrund der fehelenden Ausbildung ist Allgemeinmedizinern die richtige Diagnostik und Behandlung von den sehr häufigen Schlaferkrankungen nicht ausreichend bekannt. Schlaferkrankungen sind sehr vielfältig – es gibt mehr als 20 verschiedene, recht komplexe Erkrankungen. Schlaferkrankungen werden häufig nur als Symptom von etwas gesehen und häufig fehldiagnostiziert und behandelt, etwa indem ein RLS oder Schlafapnoe als Insomnie gedeutet wird.

Auch in den Kliniken wird bisher Schlaf nicht systematisch erfasst. Bei jedem Patienten, der in eine Klinik kommt, wird Blutdruck, Puls oder Blutzucker gemessen, Schlaf leider nicht. Dabei liesse dieser sich eigentlich sehr einfach screenen. Wir vom Sleep House Bern haben dafür einen 1,5-minütigen Kurz-Screening-Fragebogen entwickelt, den Patienten selbst ausfüllen können. In der Reha-Klinik Zihlschlacht führen wir nun grad ein, dass Schlafstörungen systematisch erfasst und behandelt werden – das wäre auch andernorts wünschenswert. Denn Schlaferkrankungen lassen sich gut behandeln, deutlich einfacher als zum Beispiel Übergewicht.

Mit systematischem Screening könnte man also vielen Menschen helfen?

Ja, insbesondere auch Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen. So weisen beispielsweise 80 bis 90 Prozent der Menschen mit einer Suchterkrankung auch eine behandlungsbedürftige Schlafstörung auf. Auch Menschen mit manischen Depressionen oder anderen psychologischen Erkrankungen könnte man sehr gut helfen, wenn wir den Schlaf einstellen. Ich kann psychiatrische Fachpersonen nur sehr stark motivieren, Schlaferkrankungen wirklich systematisch zu screenen. Insgesamt braucht es mehr Aufklärung – nicht nur in Kliniken, sondern auch in Unternehmen oder Schulen. Wir haben es bei den Schlafstörungen mit einer Krankheitsgruppe zu tun, die zentral für unsere Gesundheit ist und leider bisher kaum gescreened und behandelt wird.

Welche Faktoren beeinflussen die Schlafqualität am stärksten?

Die organischen Schlaferkrankungen. Wir denken in der Bevölkerung immer als erstes an Stress als Auslöser von Schlaferkrankungen. Das ist tatsächlich ein Faktor für akute Schlafprobleme, also kurzfristige. Die meisten Schlaferkrankungen wie Schlafapnoe, Restless Legs, Albträume, und auch die chronischen Ein- und Durchschlafstörungen haben eher wenig mit andauerndem Stress zu tun. Der Hauptrisikofaktor für Schlafstörungen sind Atemaussetzer im Schlaf. Wer schnarcht, sollte als Vorbeugung etwas dagegen tun.

Da gibt es ganz viele verschiedene Möglichkeiten von Gewichtsabnahme über Rachenmuskeltraining, Reduktion von Alkohol und Schlafmitteln, Schlafen in der Seitenlage, Verbesserung der Nasenatmung und Verzicht auf Essen nach 20 Uhr.

Sie haben vorher bereits die Problematik der Schichtarbeit angesprochen. Können Sie das ausführen?

Wir haben in der Schweiz 7 Prozent Menschen, die in Nachtarbeit arbeiten und 13 Prozent, die insgesamt Schicht arbeiten. Und das ist sehr schlafgefährdend. Es ist fast unmöglich, 40 Stunden in der Woche Schicht zu arbeiten, ohne nach 10 Jahren Gesundheitsprobleme zu entwickeln. Der Körper bräuchte bei Schichtarbeit zusätzliche Regenerationszeit. Aktuell wird die Schichtarbeit monetär kompensiert, aber Geld kompensiert nicht die Gesundheitsprobleme. Schichtarbeit sollte in der Schweiz nicht mehr als 25 oder 30 Stunden pro Woche erlaubt sein. Und gleich wie wir empfehlen, mit Rauchen aufzuhören und keinen Alkohol zu trinken, müssten wir eigentlich jedem Menschen empfehlen, nicht Schicht zu arbeiten bzw. nicht mehr als 25 Stunden die Woche im Schichtdienst tätig zu sein. Es hat schon gute Gründe das Nachtarbeit eigentlich in der Schweiz verboten ist (Art. 16 Arbeitsgesetz) und nur als Ausnahme bewilligt werden darf.

Gibt es weitere Empfehlungen, die Sie für einen guten Schlaf geben können?

Regelmässig schlafen. Plus minus eine Stunde zur gleichen Zeit ins Bett gehen und zur gleichen Zeit auch aufstehen, auch am Wochenende. Ein weiterer Faktor für guten Schlaf ist ausreichend Tageslicht. Wir bekommen in unserer Gesellschaft nicht zu viel Licht, sondern zu wenig. Wir sind oftmals den ganzen Tag in Innenräumen und kaum mehr als ein paar Minuten draussen.

Draussen fallen etwa 1000 bis 8000 Lux in meine Augen, in einem sehr gut nach DIN-Norm ausgeleuchtet Raum etwa 250 Lux. Unsere Innere Uhr braucht eigentlich mindestens 1000 Lux um sich zu synchronisieren. Eine neue Studie zeigt, dass die Zeit, die wir am Tageslicht verbringen, mit möglichen Erkrankungen korreliert. Je mehr wir tagsüber draussen sind, desto mehr Melatonin wird nachts produziert und desto stabiler ist unsere innere Ruhe des Körpers. Und desto besser schlafen wir auch.

In den Medien liest man oft, dass das künstliche Licht von elektronischen Geräten den Schlaf stört?

Das scheint mir weniger entscheidend. Das reine Handylicht am Abend verlängert die Einschlaflatenz um eine Minute. Das ist ein messbarer Effekt, aber er ist recht klein im Vergleich zu den anderen Effekten. Das Hauptproblem ist der Mangel an Licht am Tag. Der Kontrast zwischen Tag und Nacht ist für den Körper entscheidend. Wenn ich natürlich tagsüber die ganze Zeit so viel Licht habe, wie ich abends in meinem Wohnzimmer bekomme, dann kann sich der Körper nicht mehr orientieren.

Wenn jemand nicht gut schläft, wann soll er sich Hilfe holen?

Wenn das Problem mehrere Monate anhält. Also nicht nach einer Woche, sondern nach mehreren Wochen. Und wenn er tagsüber in seinem Tagesbefinden gestört ist, also wenn das Auswirkungen auf Konzentration hat, auf seine Leistungsfähigkeit, oder wenn tagsüber Einschlafattacken auftreten.

Und wo hole ich diese Hilfe?

Meist in der Hausarztpraxis. Es gibt einige Schlaferkrankungen, die der Hausarzt sehr gut behandeln kann, beispielsweise das Restless-Legs-Syndrom. Bei einer Schlafapnoe werden Sie an einen Lungenfacharzt überweisen, bei einer Insomnie an einen Psychologen oder einen Psychiater. Man kann aber durchaus auch direkt ein Schlaflabor aufsuchen.

Ich rate davon ab, sich an selbsternannte Schlaf-Coaches zu wenden. Denn dieser Titel ist nicht geschützt und oft sind diese Coaches nicht in der Lage, Schlafapnoe von einer Insomnie zu unterscheiden. Sie empfehlen häufig vor allem Entspannungsverfahren, was aber nicht unbedingt zielführend ist. In Studien wurde immer wieder gezeigt, dass Entspannungsübungen allein nicht zu besserem Schlaf führen. Sie können den Schlaf verbessern, aber eigenständig sind sie kaum wirksam, um z.B. eine Insomnie zu behandeln. Manchmal sind die Leute ganz entspannt, können aber trotzdem nicht schlafen.

Dieses Interview ist für das "Thema des Monats" Oktober 2024 geführt worden. Jetzt "Thema des Monats" abonnieren.

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