Angemessene Suchthilfe trotz Pandemie: Interview mit Marcello Cartolano
«Ingrado – servizi per le dipendenze» ist eine Tessiner Stiftung mit Sitz in Chiasso, Lugano, Viganello, Cagiallo, Bellinzona, Locarno und Biasca. Ihre Hauptaufgabe ist die Beratung und Betreuung von Personen mit Sucht- oder Konsumproblemen. Vizedirektor Marcello Cartolano berichtet, wie die Stiftung ihre niederschwelligen Angebote zur Schadensminderung während der Covid-19-Pandemie aufrechterhalten konnte.
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Auch während der Pandemie benötigen Personen, die auf Angebote der Suchthilfe, wie z.B. Kontakt- und Anlaufstellen oder aufsuchende Suchthilfe angewiesen sind, entsprechende Begleitung und Beratung. Wie haben Sie die Arbeit im Feld in dieser Zeit erlebt?
Marcello Cartolano: Die Covid-19-Krise hatte viele Auswirkungen auf unsere Zielgruppe, aber auch auf unsere Leistungen, die von Tag zu Tag angepasst werden mussten. Wenn man bedenkt, dass das Tessin in dieser Krise an vorderster Front stand und wir uns in einer Zeit grosser Unsicherheit befanden, war diese Phase sehr intensiv. Wir organisierten die Betreuung und passten diese an. Dabei war für uns das Wichtigste, Rücksicht auf die Vulnerabilität unserer Leistungsempfängerinnen und -empfänger zu nehmen.
Was war in den letzten zwei Jahren besonders herausfordernd? Wie sind Sie damit umgegangen?
Die Bindung zu unserer Zielgruppe aufrecht zu erhalten, war sehr herausfordernd. Für uns war es schwierig, die Massnahmen der Behörden einzuhalten und gleichzeitig eine Betreuung sicherzustellen, die auf die spezifischen Bedürfnisse der Zielgruppe zugeschnitten ist. Deshalb entwickelten wir verschiedene Strategien, um die Sicherheit unserer Mitarbeitenden sowie diejenige der Klientinnen und Klienten zu gewährleisten: So beispielsweise Austausch auf Distanz (z.B. über Skype) oder Besuche zu Hause oder an anderen Treffpunkten.
Auf logistischer Ebene wurden unsere Räumlichkeiten angepasst. Wir wollten die verschiedenen Leistungen weiterführen, wie die Abgabe von Material zur Schadensminderung, die Substitutionsbehandlungen oder die Beratungen. Dass sich die Situation ständig änderte, konnte bei Personen, die an einen bestimmten Ablauf gewöhnt waren, zu Stress führen. In jedem Fall musste die Bindung unbedingt aufrechterhalten werden. Wir mussten verhindern, dass manche Personen in ihrer Isolation einen Rückfall erlitten.
Die Schutzmassnahmen haben für Institutionen im Suchtbereich viel Aufwand verursacht. Wie haben sich die Institutionen organisiert?
Die Verbände im Suchtbereich unterstützten sich gegenseitig. Ingrado schloss sich mit «Ticino Addiction» und der «Association romande et tessinoise des institutions d'action sociale» (Artias) zusammen. Letztere baute die von Infodrog koordinierte Arbeitsgruppe «Schadensminderung und Covid-19» auf. Durch diese Arbeitsgruppe konnten wir uns über unsere Erfahrungen und Erlebnisse austauschen, bewährte Praktiken weitergeben oder die auf kantonaler Ebene geltenden Normen diskutieren. Gemeinsam mussten wir als Anlaufstelle für Suchtfragen dem Druck der Behörden und der Gesellschaft standhalten. Schliesslich ermöglichte uns der Zusammenschluss, den Behörden Botschaften zu übermitteln (z.B. Anpassungsbedarf am Arbeitsplatz), denn die Suchtfrage wurde nicht als dringlich erachtet.
Diese Situation war für Ihre Einsatzkräfte vor Ort nicht gerade einfach, oder?
Wir mussten uns anpassen. Unsere aufsuchenden Sozialarbeitenden gingen völlig neue Wege und leisteten dabei manchmal anders Hilfe als vorgesehen (z. B. bei niederschwelligen Angeboten). Diese Männer und Frauen standen an der Front, und das war nicht immer einfach. So führten beispielsweise die immer wieder ändernden Gesundheitsmassnahmen zu mentaler Erschöpfung. Hinzu kam das ständige Infektionsrisiko beim direkten Kontakt mit den Klientinnen und Klienten. Jede Person musste bei Einsätzen vor Ort so handeln, dass die eigene Gesundheit und diejenige der anderen geschützt war. Schliesslich machte die Zeit der Homeoffice-Pflicht die Arbeit unseres interdisziplinären Teams auch nicht einfacher. Glücklicherweise unterstützten sich alle gegenseitig.
Welche Anregungen und Empfehlungen möchten Sie aus den Pandemieerfahrungen der Gesundheits- und Sozialpolitik mitgeben?
Diese Pandemiezeit hat uns gezeigt, dass die Suchthilfe einer spezifischen Komplexität unterliegt. Sie steht an der Schnittstelle zwischen dem Sozial- und dem Gesundheitsbereich. Deshalb lässt sie sich nur schwer in eine Schublade stecken. In meinen Augen müssen sich die politischen Behörden des biopsychosozialen Charakters unseres Bereichs bewusst werden. Während der Krise fragten wir uns nämlich: «Welche Regeln sollen wir befolgen? Soziale? Jene des Gesundheitsschutzes?». In dieser Hinsicht hat das niederschwellige Angebot einen ambivalenten Charakter. Das war uns nicht immer klar. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Suchthilfe als spezifischer Bereich zu betrachten ist, der besondere Aufmerksamkeit erfordert.
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