«Das Living Museum hat mich brutal stabilisiert»
Selina Stöger und Tenzin Siegfried sind zwei Kunstschaffende am Living Museum, dem Kunstasyl für psychisch kranke Menschen in Wil SG. Sie ist durch ihre psychiatrische Behandlung ins Living Museum gekommen, er hat dort nach einem Praktikum eine Festanstellung erhalten. Er unterstützt nun die anderen Kunstschaffenden mit seinem Knowhow. Die beiden erzählen von ihrem Alltag im Living Museum und davon, was ihnen das Projekt bringt.
Artikeldetails
Was bedeutet dir Kunst?
Tenzin: Kunst begleitet mich, seit ich 14 oder 15 Jahre alt war. Damals beschäftigten mich Graffitis, Tattoos und dann auch die Malerei – später habe ich einen Bachelor in Kunstgeschichte abgeschlossen. Vor vier Jahren bin ich als Praktikant ins Living Museum gekommen. Das hat meinen Kunstansatz massiv verändert: Während vorher vor allem mein eigenes Schaffen im Zentrum stand, ist nun der Mensch im Fokus. In meiner Kunst versuche ich nun immer, die Menschen in irgendeiner Form zu integrieren. Sei dies bei der Zusammenarbeit oder im Austausch, oder wenn ich Kunst für jemanden zugänglich machen möchte. Seit Anfang Jahr bin ich nun Festangestellter im Living Museum – im Atelier Kunst und Medien.
Selina: Ich habe eine Erinnerung an die Schule: Wir sollten ein Tier zeichnen, ein Pferd. Das habe ich gemacht. Meine Lehrerin meinte aber, es sei ein Elefant. Daher war ich überzeugt, Kunst sei nichts für mich. 2019 kam ich zum ersten Mal in die Klinik und habe das Living Museum kennen gelernt, der Einstieg war oben im Papieratelier. Das war Teil meiner Therapie auf der Psychiatrie-Station – da gibt es verschiedene Ateliers. Erst wusste ich nicht recht, was dort anfangen – in meinem Kopf hatte ich noch: «Du kannst nicht zeichnen.» Im Living Museum haben sie sich Zeit genommen und mich gelehrt, dass in der Kunst nichts falsch sein kann. Das hat mir die Angst genommen. So habe ich angefangen und ausprobiert. Zuerst mit ein paar Graffiti-Buchstaben und Peace-Zeichen, dann habe ich versucht, ein Bild von meinem Handy auf Papier zu bringen. Eine tolle Praktikantin hat mich unterstützt. Sie hat an mich geglaubt und gesagt: «Du kannst das und ich helfe dir». So hat das mit der Malerei seinen Lauf genommen.
Am Anfang hat mich die Kunst auch im Living Museum verunsichert – ich hatte das Gefühl, nicht reinzupassen. Aber im Kunst und Medien Atelier habe ich gelernt, auf mich selbst zu schauen. Heute ist das Living Museum mein zweites Zuhause.
Was hat euch das Living Museum gebracht?
Tenzin: Es hat mein Verhältnis zur Kunst verändert. Ich bin dankbar, dass ich den Prozess, den unsere Kunstschaffenden machen, begleiten darf. Nehmen wir das Beispiel von Selina: In kurzer Zeit hat sie viele Fortschritte gemacht – das ist einfach nur beeindruckend. Bei uns ist alles stark auf die Selbstständigkeit ausgerichtet. Wir Angestellten sind nur zur Unterstützung dort. Mir selber bringt das Living Museum sehr viel – ich glaube, dank dieser Arbeit werde ich zufriedener. Und auch der Austausch bringt mir viel – ich habe im Living Museum schon so viel gelernt. Nicht einzig im Sinne «etwas fürs Leben gelernt», sondern technisch. Zum Beispiel arbeitet bei uns ein ehemaliger Kirchenmaler. Er hat ein unglaubliches Knowhow über Farben und die Pigmentlehre, das er gerne teilt. Natürlich lernen wir auch gegenseitig von den Prozessen und Gedanken, welche sich Künstler machen.
Selina: Das Living Museum hat meinen Traum erfüllt: Schlagzeug spielen. Beim Kunst-und Medien-Atelier hat es auch ein Musik-Atelier. Nun spiele ich etwa seit einem Jahr. Seit einigen Monaten begleitet von einem anderen Patienten, der schon seit 50 Jahren Schlagzeug spielt. Er gibt mir nun jede Woche Unterricht. Ich bin im Moment jeden Tag im Living Museum – von Montag bis Samstag. Ich bin in der Tagesklinik, weil das mit dem Arbeiten psychisch überhaupt nicht funktioniert hat. Ich bin mega dankbar, gibt es das Living Museum. Ohne das wüsste ich nicht, wo ich wäre. Es hat mich brutal stabilisiert und es ist von Herzen mein zweites Zuhause. Wenn es mir mal nicht gut geht, weiss ich, ich habe dort helfende Hände. Ich fühle mich verstanden und aufgenommen. Auch unter den Mitpatientinnen und -patienten herrscht ein liebevoller Umgang, unter Jung und Alt. Es ist total durchmischt, und doch einfach eine grosse Familie. Der Sonntag ist für mich der strengste Tag – dann kann ich nicht ins Living Museum. Tenzin hat mir aber auch schon Input gegeben, wie ich mir diesen Tag gestalten kann, zum Beispiel mit Zeichnen zu Hause.
Wie kann ich mir den Alltag im Living Museum vorstellen?
Tenzin: Es hat vier Ateliers im Living Museum, verteilt auf drei Stöcken: Kunst und Medien inklusive Musik-, Textil- und Theateratelier, Papier, Keramik sowie das Werkatelier mit Holz. Normalerweise sind um die 150 Personen pro Tag anwesend. Alle können frei entscheiden, in welches Atelier sie gehen und wie lang sie bleiben wollen. Darunter sind auch sieben Festangestellte und mehrere Praktikantinnen und Praktikanten. Das Kunst-und-Medien-Atelier ist eigentlich das Herzstück, der dynamischste Ort. Dort sind auch die meisten Kunstschaffenden, so um die 35.
Das Living Museum ist super ausgerüstet: Von Farben, Drucksachen, über Brennöfen bis zu Schmelzanlagen ist alles da. Wir zeigen alles, aber jeder entscheidet selbst, wo er oder sie sich wohlfühlt. Wir Angestellten unterstützen den Prozess – vor allem auch, wenn jemand mal nicht weiterkommt. Wir glauben, dass jeder und jede eine innere Ästhetik und das Potential hat, Kunst zu schaffen. Selina hat auch schon mehrere künstlerische Phasen hinter sich. Es ist ein Ausprobieren und ein Finden seiner wahren künstlerischen Ausdrucksweise.
Selina: Man lässt den Menschen freien Lauf. Aber jeder kann Inputs und Hilfe holen.
Tenzin: Wir zeigen vor allem Techniken, die sie anwenden können. Zum Beispiel, wie ich eine kleine Skizze auf eine grosse Leinwand bringe. Ob sie dies dann so umsetzen – das ist ihre Entscheidung.
Selina, wie arbeitest du im Living Museum? Vor allem für dich oder mit anderen?
Selina: Im Living Museum bin ich unter Menschen, das mag ich sehr und das tut mir gut. Beim Malen arbeite ich inzwischen vor allem alleine. Aus der Familie habe ich nun schon ein paar Aufträge erhalten – zum Beispiel habe ich den Hund meiner Tante gemalt. Zuerst wollte ich den Hund 1:1 vom Foto abmalen – aber ich habe gemerkt: Das funktioniert nicht. Ich war recht frustriert und hätte am liebsten alles hingeschmissen. Tenzin hat mir dann geraten, mich etwas zu lösen. Ich muss ja kein Foto machen, sondern ein Bild mit meinem Touch. Ich habe das Ganze dann vereinfacht, mit einem abstrakten Hintergrund. Ich konnte mich vom Perfektionismus lösen und habe so die Pop Art für mich entdeckt.
Ich bin aber auch bei anderen Projekten involviert. Die Praktikantinnen und Praktikanten haben immer eigene Projekte. Bei einer Praktikantin bin ich aktuell in einem Stop-Motion-Projekt mit dabei. Sie gibt uns Materialien und Erklärungen – eigentlich wie ein Workshop. Solche Projekte gibt es immer wieder.
Ihr habt ja gemeinsam das Visual Protokoll der Stakeholderkonferenz Sucht erstellt, welches nun im BAG hängt. Wie seid ihr da vorgegangen?
Selina: Wir haben uns vorbereitet: Was wollen wir auf das Bild bringen? Was ist die Message dahinter? Wir haben viel diskutiert und skizziert, uns dann aber doch ziemlich schnell gefunden. Es war intensiv und sehr spannend. Es macht mich stolz, dass ich mitmachen und mitgehen durfte und ein Teil davon bin. Diese Arbeit hat auch Tenzin und mich näher zusammengebracht, vorhin haben wir uns eigentlich nur gegrüsst, wir hatten nicht viel miteinander zu tun. Für mich war es das erste Mal, dass ich so mitgehen durfte. Ich war sehr gelassen, die Atmosphäre am Tag der Veranstaltung selbst habe ich sehr genossen. Ich habe mich wohl und willkommen gefühlt. Das ist eines der schönsten Erlebnisse dieses Jahr, dass es mich gebraucht hat und ich mal wieder etwas mitmachen durfte. Es hat mir das Gefühl gegeben, dass ich wichtig bin – dieses Gefühl hatte ich vorher eine Weile nicht mehr. Durch das Living Museum bekomme ich dieses Gefühl immer mehr, es stärkt mich. Das hilft mir, positiv an mir zu arbeiten. Ein Push gegen meine psychische Erkrankung.
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