«Das Problem ist, dass wir keine Drogenregulierung haben, die auf Evidenzen basiert»
Von 1993 bis 2007 arbeitete Neil Woods als Undercover Drogenfahnder in Grossbritannien – in einer Zeit der «Heroin-Epidemie» und der Bandenkriminalität. Durch seine Tätigkeit erlebte er hautnah mit, welche negativen Auswirkungen der «war on drugs» sowohl für Suchterkrankte als auch für die Polizei hat. In seinem bekannten Buch von 2016 «Good Cop Bad War» hat er seine Erfahrungen eindrücklich geschildert. Seither engagiert er sich für Gesetzesreformen psychoaktiver Substanzen. Ein Interview.
Artikeldetails
Neil, du hast eine erstaunliche Geschichte und eine noch erstaunlichere Wende durchgemacht – vom Undercover Agenten zum Aktivisten für Gesetzesreformen. Doch beginnen wir am Anfang deiner Polizeikarriere: Kannst du uns ins Jahr 1993 zurücknehmen, wo dein ereignisreicher Werdegang begann. Wie hat es für dich als Polizist angefangen und wie bist du dann dazu gekommen, als Undercover-Drogenfahnder zu arbeiten?
Neil Woods: Ich war ab 1989 uniformierter Polizeibeamter in Derbyshire (Grossbritannien) und mit meinen 19 Jahren noch ziemlich jung. Einige Jahre später wurde ich dann der Drogenfahndung zugeteilt. Das war zu einer Zeit, als in weiten Teilen Europas grosse Panik vor Drogen herrschte und es einen starken Anstieg des Heroinkonsums gab. In den 70er- und 80er-Jahren war die Schweiz davon besonders stark betroffen. Aber während die Gespräche in der Schweiz in eine pragmatische und evidenzbasierte Richtung gingen, war es in Grossbritannien anders: Der Innenminister wies alle Polizeichefs an, die Drogen und die Drogenmärkte zur obersten Priorität zu machen. Auch finanziell wurde massiv in die Drogenpolizei investiert. Hier kam ich ins Spiel. Sie weiteten den Einsatz von Drogeneinheiten aus und ich wurde angefragt, ob ich Lust hätte, Crack kaufen zu gehen. Auf diese Art von Undercover-Arbeit war ich nicht vorbereitet – sie war völlig neu. Es gab vorwiegend hochrangige verdeckte Ermittlungen, bei denen hochqualifizierte Ermittler von Informanten in die höchsten Ebenen des organisierten Verbrechens eingeführt wurden.
Wie bist du konkret vorgegangen?
Ich erinnere mich, dass ich in der Stadt Derby einen 20-Pfund-Schein bekommen, an eine Tür geklopft habe und der Dealer mir unkompliziert Crack verkauft hat. Der Punkt ist, dass es wirklich einfach war. Das organisierte Verbrechen dachte nicht, dass sie den Polizisten vor ihrer Haustür finden würden. Als ich wegging, sagte der Dealer übrigens noch: «Pass auf dich auf. Lass dich nicht verhaften», was ich für sehr rücksichtsvoll hielt. Der Dealer kam dann ins Gefängnis und alle sprachen darüber. Das organisierte Verbrechen musste sich plötzlich auf Undercover-Einsätze einstellen. Darauf folgte eine Zunahme der Gewalt, um der Bedrohung durch die Polizei entgegenzuwirken. Es gibt immer eine Ursache und eine Wirkung: bei den Drogenmärkten, bei der Polizeiarbeit und bei der Prohibition. Mein Undercover-Einsatz war so erfolgreich, dass aus ein paar Tagen Einsatz ein paar Wochen wurden und ich dann in kürzester Zeit sechs oder sieben Monate arbeitete und herumreiste. Ich wurde an verschiedene Polizeibehörden ausgeliehen und entwickelte das Handwerk weiter.
Kannst du über deine Erfahrungen berichten, die du als verdeckter Ermittler gemacht hast?
Nun, als ich mit dieser Arbeit anfing, hatte ich eine sehr stigmatisierte und vereinfachte Sicht auf drogenabhängige Menschen. Ich dachte, dass Menschen, die süchtig waren, einfach nur dumm waren, weil sie die Substanz überhaupt erst probiert hatten. Und ich habe auf diese Menschen herabgeschaut, als wären sie im Grunde Menschen, die nicht die Willenskraft hatten, da rauszukommen. Eine sehr verurteilende Sichtweise und eine, die immer noch von vielen Menschen geteilt wird. Mit der Zeit habe ich meine Meinung geändert. Dies aber nicht aus besonderer Fürsorge für diese Menschen, sondern um bei meiner Arbeit zu überleben. Denn die Arbeit wurde immer gefährlicher und ich war gezwungen, mich in die Gemeinden, in die ich zog, einzufügen. Um das zu erreichen, verbrachte ich viel Zeit damit, die Menschen zu verstehen. Wenn ich wie sie sein wollte, musste ich sie verstehen. Also verbrachte ich viel Zeit damit, mit Menschen zu reden und ihnen zuzuhören und lernte dabei schnell, dass Personen, die ein Problem mit Heroin oder Crack hatten, aufgrund traumatischer Ereignisse konsumierten. Denn bei fast allen bestand ein traumatisches Ereignis oder eine Reihe von Ereignissen in der Kindheit. Ich habe also Menschen getroffen, die als Kind sexuell missbraucht oder körperlich misshandelt oder vernachlässigt wurden. Und deshalb haben sie sich selbst mit psychoaktiven Substanzen behandelt.
Also hat sich da auch deine Meinung gegenüber den Menschen mit einer Suchterkrankung geändert?
Ja, die Erfahrungen haben mir die Augen geöffnet. Jetzt bin ich bereits seit langem als Aktivist tätig und lese wissenschaftliche Studien, die das, was ich gelernt habe, belegen. Es geht fast ausschliesslich um Kindheitstraumata, um psychische Probleme oder um eine nicht diagnostizierte Neurodiversität. Aber meistens handelt es sich um ein Kindheitstrauma.
Hat diese Erkenntnis auch die Sicht auf deine Arbeit als Polizist verändert?
Wenn ich neu in einer Stadt war, suchte ich nach den verletzlichsten Menschen. Die verletzlichste Person war mein Ausgangspunkt, weil sie am einfachsten zu manipulieren ist. Das erscheint rücksichtslos, was es natürlich auch war. Das liegt in der Natur dieser Arbeit als Drogenfahnder und das war es, was ich tat. Ich benutzte schutzbedürftige Menschen, um sie zu manipulieren und sie dazu zu bringen, mich mit Gangstern bekannt zu machen. Und dann verbrachte ich Zeit damit, Beweise gegen diese Menschen zu sammeln. Mit der Zeit entwickelte ich ein zunehmendes Verständnis für die Menschen und das gab mir ethische und moralische Zweifel an dem, was ich tat. Aber ich war Polizist und ich konzentrierte mich darauf, am Ende der Operation die «Bösewichte» zu schnappen. Ich erinnere mich, dass ich bei einer Operation spielen musste, dass ich zu kämpfen hatte. Dabei traf ich auf Uma, die ich schon lange kannte. Und sie sagte: «Oh, du brauchst etwas». So griff sie in ihre Tasche und gab mir einen 5-Pfund-Schein. Sie sagte, ihr gehe es für ein paar Stunden gut. Meine Reaktion war: «Aber du brauchst es und es sind eindeutig die einzigen 5 Pfund, die du hast.» Aber sie gab mir das Geld, weil ich es aus ihrer Sicht zu diesem Zeitpunkt mehr brauchte als sie. Nun, wo gibt es so etwas? Ich erinnere mich, dass ich mit Uma über ihre Kindheit gesprochen habe und sie die Beweggründe ihres Heroinkonsums erklärte: «Das Problem ist, dass wenn ich mit dem Heroin aufhöre, kann ich mich an das Gefühl der Fingernägel meines Onkels erinnern, als er mich als kleines Mädchen sexuell missbraucht hat». Das ist nur eine der vielen Lektionen, die ich gelernt habe.
Wie hängt die Polizeiarbeit mit dem Drogenmarkt zusammen? Welche negativen Auswirkungen hat die Repression auf die Polizei, auf die Gesellschaft und die Konsumierenden selbst?
Mit der Polizeiarbeit habe ich mich jahrelang beschäftigt. Auch habe ich bei der Entwicklung der Ausbildung für andere verdeckte Ermittler geholfen. Und es wurde immer schwieriger, die Infiltration wurde viel detaillierter und viel komplizierter. Ich habe mich dabei immer auf das Ergebnis konzentriert und meine Zweifel über die Auswirkungen auf schutzbedürftige Menschen beiseitegeschoben. Aber es gibt noch andere Gründe, warum wir uns damit befassen sollten, was wir tun, wenn wir Drogen überwachen. Und wir sollten bedenken, dass jede polizeiliche Tätigkeit, jede Tätigkeit im Bereich der sozialen Gerechtigkeit und jede Tätigkeit im Bereich der Strafjustiz auf Evidenzen basieren sollte. Das Problem ist, dass wir keine Drogenregulierung haben, die auf Evidenzen basiert. Wir tun es einfach und die Überprüfung wird durchgeführt, indem wir feststellen, wie viele Personen verhaftet werden und wie viele Drogen beschlagnahmt werden. Der Beweis für den Erfolg der Polizeiarbeit sollte aber die Verringerung oder das Ausbleiben von Kriminalität sein.
Hast du ein konkretes Beispiel für die Auswirkungen der Polizeiarbeit?
Wir hatten es auf eine Bande namens Burger Bar Boys in Grossbritannien abgesehen. Auch wenn der Name sehr harmlos klingt, war die Bande in verschiedene Morde, in Waffenhandel, extreme Gewalt und offene Kriege mit Rivalen verwickelt. Sie war eine ernste Angelegenheit und ich hatte damals wahrscheinlich bereits eine schwere posttraumatische Belastungsstörung – auch das eine Auswirkung der Arbeit als Drogenfahnder. Auf jeden Fall war es eine riesige Operation: wir hatten Beweise gegen 96 Personen und ich ging davon aus, dass es ein aussergewöhnlicher Erfolg werden würde. Die Verhaftungsphase wurde mit hunderten von Polizisten durchgeführt. Zwei Wochen später wurde die Wirksamkeit dieser Operation untersucht, mit dem ernüchternden Ergebnis: «Ja, wir haben es geschafft, die Drogenversorgung für volle zwei Stunden zu unterbrechen». Ich war sieben Monate lang ziemlich davon überzeugt, dass ich sterben würde – nur um diesen Markt für zwei Stunden zu unterbrechen. Das Problem ist, dass der Drogenmarkt nie schrumpft, sondern dass er durch Polizeieinsätze verändert wird. Und ziemlich oft nutzen kriminelle Vereinigungen die Polizei, um Rivalen loszuwerden. Was man durch die Drogenbekämpfung im Laufe der Zeit tut, ist, dass man den Markt verfeinert. Und durch diese Verfeinerung schaffen wir Monopole oder Genossenschaften. Und wo wir das tun, hat das Monopol einen erhöhten Anteil am Marktwert. Und dieser Marktwert, das verfügbare Einkommen, wird dann in Korruption investiert.
Wie blickst du auf die aktuelle Regulierung in der Schweiz?
Ich blicke sehr positiv auf die Schweiz. Denn die Schweiz ist eines der wichtigsten Beispiele dafür, was weltweit richtig gemacht werden kann. Und ich möchte jeden Polizeibeamten und jede Polizeibeamtin und alle, die mit dem Strafrechtssystem zu tun haben, bitten, das was in der Schweiz richtig gemacht wird zu würdigen und zu erkennen, wie viel besser die Situation im Vergleich zu den meisten anderen Länder ist. 1994 habt ihr in der Schweiz mit der Verschreibung von Heroin begonnen. Schätzungen zufolge bezieht die Hälfte der Heroinkonsumierenden das Medikament aus einer legalen, regulierten Quelle, bspw. von einem Arzt, und nicht von einem Gangster. Das frustrierende für mich als Briten ist, dass die Schweiz Anfang der 1990er Jahre britische Erkenntnisse für diese Politik genutzt hat. Während wir unter der Führung der USA in die falsche Richtung gegangen sind und Verbote einführten. Wir haben die höchste Gefängnispopulation in Europa und wir haben 50’000 Kinder, die für den Verkauf von Heroin ausgebeutet und traumatisiert werden. Das wird in der Schweiz nicht passieren; weil das organisierte Verbrechen den Heroinmarkt nicht im Griff hat, seid ihr vor all diesen schrecklichen Dingen geschützt.
Was ist dann aus deiner Sicht und deinem spezifischen Wissen der richtige Weg im Umgang mit illegalisierten Substanzen?
Mit der Grundlage an Evidenzen und einer vernünftigen Gesundheitspolitik, wie in der Schweiz, sollten Gesetzesreformen gerade auch im Interesse der Polizeiarbeit, des Strafrechtssystems und auch im Interesse der Menschen, die ein Drogenproblem haben, sein. Denn der beste Weg für die Polizei, dem organisierten Verbrechen einen Schlag zu versetzen, ist sich für eine gesetzliche Regulierung der Drogenmärkte einzusetzen. Das ist effektiver, um die Macht des organisierten Verbrechens zu verringern, als Türen einzutreten, um Menschen zu verhaften und Drogen zu beschlagnahmen. In der Schweiz gibt es aktuell Experimente für Modelle der Cannabisregulierung. Ich finde das ist ein guter Anfang. Die Schweiz bewegt sich allerdings zu langsam, denn die Beweise liegen bereits vor. Aber das ist der Schweizer Weg. Man kann auch die Kontrolle über die anderen Märkte übernehmen. Man sollte also mit Experimenten beginnen: Ich weiss, dass es in der Stadt Bern eine Diskussion darüber gab, Bern als Ort dafür festzulegen. Kokain ist wohl die wichtigste Droge, mit der wir uns befassen sollten und man muss herausfinden, wie man sie regulieren kann. Denn dies betrifft nicht nur Menschen in der Schweiz oder in Grossbritannien. Die Drogenpolitik ist eine globale politische Entscheidung. Die internationalen Drogenmärkte sind das viert- oder fünftgrößte Geschäft der Welt. Das ist grösser als der Textilmarkt. Und der Drogenmarkt ist völlig unreguliert und unversteuert. Das Geld wird für Korruption verwendet. Wir haben ausserdem immer mehr «Narco-Staaten»: bspw. Nicaragua, Guinea, Guinea-Bissau oder Senegal. Die Liste wird immer länger. Ecuador entwickelt sich tagtäglich hin zu einem Drogenstaat.
Also ist keine Besserung in Sicht?
Ich bin ein Vollzeitaktivist und lebe und atme das von morgens bis abends. Um als Aktivist mental zu überleben, muss man Optimist sein. Also bin ich ein Optimist. Und es gibt verschiedene Gründe, warum ich optimistisch bin. Die Argumente für eine Reform der Drogengesetze gewinnen an Fahrt. Aber wir brauchen keine neuen Evidenzen, diese liegen schon lange vor. Ich habe überzeugende Erzählungen für Storytelling; alles, was ich sage, basiert auf einer sehr soliden Grundlage. Und ich beziehe mich speziell auf eine meiner politischen Heldinnen, die ehemalige Bundesrätin Ruth Dreifuss.
Ruth Dreifuss ist eine deiner politischen Heldinnen?
Sie hat als Gesundheitsministerin die Faktenlage betrachtete und erkannt, was nötig war. Sie setzte sich für eine Politik ein, die der öffentlichen Meinung zuwiderlief und machte eine Kampagne, mit der sie die öffentliche Meinung für sich gewann. Dafür ging sie politisch ein Risiko ein und das macht sie meiner Meinung nach zu einer politischen Heldin. Und davon brauchen wir mehr. Wir brauchen Menschen, Politikerinnen und Politiker, die bereit sind, die Fakten zu sehen und auf ein Ziel hinarbeiten können. Aber auch anderswo tauchen Führungspersönlichkeiten auf. So setzt sich beispielsweise die Bürgermeisterin von Amsterdam, Femke Halsema, für all das ein, wofür ich mich einsetze. Vermehrt sprechen sich Regierungen von Städten gegen die Prohibition aus, weil gerade die Städte von den negativen Auswirkungen besonders betroffen sind. Und das ist ein neuer Aspekt in der Debatte. Femke Halsema ist ausserdem Kriminologin und versteht das Thema umfassend. Dass es nun auch Städte gibt, wo ein Umdenken bei den Verantwortlichen stattgefunden hat, sind erfreuliche Veränderungen.
Gibt es andere Entwicklungen, die optimistisch stimmen?
Es gibt auch eine andere wichtige Entwicklung: das Umdenken innerhalb der Polizeiarbeit, welche neben der Strafverfolgung vermehrt auch Public-Health-Aspekte berücksichtigt. Es gibt eine globale Vereinigung für Strafverfolgung und Public Health, die im Wesentlichen nach Lösungen für Probleme der öffentlichen Gesundheit im Bereich der Polizeiarbeit sucht. Und das ist etwas, was konkret zur Gewaltreduzierung beiträgt. Ausserdem passiert in den wohlhabenderen Ländern gerade etwas Interessantes im Bereich der Polizeiarbeit, und das wird in der Schweiz genauso sein wie in anderen Ländern, mit denen ich gesprochen habe. Polizeiführungskräfte müssen, wenn sie in die nächste Führungsrolle befördert werden wollen, in der Lage sein, in ihrem Vorstellungsgespräch über die Auswirkungen von Public Health auf die Polizeiarbeit, insbesondere Kriminalität, sprechen können. Und sie müssen in der Lage sein, evidenzbasierte Polizeiarbeit zu verstehen. Das bedeutet, dass sie aus einer evidenzbasierten Sichtweise und einer polizeilichen Führungsperspektive heraus denken können müssen. Und das ist ein wichtiger Punkt: wenn die Polizei anfängt, sich die Evidenzen anzusehen, erkennen sie, welche Reformen die Gesellschaft sicherer machen werden. Dann untergräbt das jeden moralisierenden Politiker, der nur ein moralisches Urteil fällen will, um billige politische Punkte zu sammeln.
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