«Erwachsene sollten bei sich ansetzen»

Die Ernährungspsychologin Ronia Schiftan berät Familien und schult Fachleute, wenn es um das Ernährungsverhalten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen geht. Im Interview erzählt sie von Essgewohnheiten, besorgten Eltern und verschiedenen Überzeugungen rund um das Thema Essen. Sie warnt davor, Lebensmittel zu werten und plädiert dafür, dass Essen als ein sozialer, genuss- und freudvoller Akt verstanden wird.

Ronia Schiftan

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Wie lernen Kinder am besten, sich ausgewogen zu ernähren?

Grundsätzlich müssen Kinder nicht lernen, sich ausgewogen zu ernähren. Denn Kinder sind schon in der Anlage intuitiv Essende und verfügen über eine Körperwahrnehmung. Das heisst, sie spüren eigentlich, was sie brauchen. Sie spüren die benötigte Menge, spüren, wann sie hungrig und wann sie satt sind. Ein Kind kann man mit Stillen oder Schoppen nicht überfüttern: Es schliesst den Mund und wendet den Kopf ab, wenn es genug hat. Kinder spüren, was sie benötigen, auch an Nährstoffen.

Verlieren Kinder diese Eigenschaft?

Mit dem Heranwachsen erfolgt eine Art Übersteuerung der natürlichen Signale durch uns Erwachsene. Wir bringen eine Form der Esserziehung mit und prägen unsere Kinder. Das geschieht nicht nur durch uns Eltern, das erfolgt überall. So werden die natürlichen, innerlichen Signale beispielsweise durch eine kulturelle Rhythmisierung übersteuert, also durch Frühstück, Znüni, Mittagessen, Zvieri und Abendessen. Grob zusammengefasst: Ein Kind kommt in ein Ess-System. Es kommt in eine Esskultur und wird durch die Eltern und andere Menschen beeinflusst und geprägt. Zum Beispiel auch von den Freunden in der KITA: Wenn das Kind sieht, dass ein anderes Kind eine Speise ablehnt, ahmt es dies womöglich nach.

Verlernen wir, die Körpersignale zu deuten?

Die Körpersignale bleiben, auch wenn wir sie nicht mehr immer verstehen. So haben wir manchmal ein Verlangen nach bestimmten Nahrungsmitteln, ein sogenanntes «Craving». Sind wir beispielsweise müde, haben wir Lust auf Zucker, Fett und Salz, denn das spendet Energie. Kleine Kinder, die müde von der KITA heimkommen, bräuchten eigentlich Schlaf. Ein typisches Signal eines müden Körpers ist jedoch eine starke Zuckerlust – der Körper teilt so mit, dass er Energie braucht. Das ist ein physiologischer Mechanismus, den auch wir Erwachsenen noch kennen: Wenn wir müde sind und an den Kühlschrank gehen, springen uns automatisch kalorienreiche Lebensmittel ins Auge, die schnelle Energie liefern.

Viele Menschen gehen auch an den Kühlschrank, wenn sie sich nicht gut fühlen...

Ja, viele Menschen haben Essen als Strategie zur Regulierung ihrer Emotionen erlernt. Das positive Gefühl von Befriedigung ist mit Essen gekoppelt. Das beginnt schon beim Säugling mit Stillen: Eine Sättigung gibt ein befriedigendes und beruhigendes Gefühl. Diese Kombination wird im Kindsalter oft verstärkt, zum Beispiel wenn Kinder mit Essen belohnt oder bestraft werden. Das kann soweit führen, dass wir psychologisch lernen, schlechte Gefühle mit Essen zu regulieren.

Viele Eltern sorgen sich, dass ihre Kinder nicht «richtig» essen.

Eltern wollen das Beste für ihre Kinder, sie sorgen sich um sie und um ihre Gesundheit. Und Eltern wollen nichts falsch machen. Gleichzeitig sind sie sehr verunsichert: Und zwar nicht nur, wenn es um die Ernährung der Kinder geht, sondern auch, wenn es um die eigene Ernährung geht. Es kursieren zahllose Ernährungsvorstellungen, darunter auch Mythen, Dogmen und gar Fake News. Das verunsichert: Was ist nun gut, was schlecht? Sollte es weniger Fleisch, weniger Zucker, mehr Bio sein? Geht es nun um die Kinder, werden diese Prämisse massiv verstärkt: Eltern haben das Bedürfnis, ihre Kinder zu schützen.

Was empfiehlst du besorgten Eltern?

Zuerst sollte man immer die Frage stellen: Wie geht es meinem Kind? Ist es fit, kann es sich auf etwas konzentrieren? Ist es aktiv? Geht es ihm körperlich gut, folgt die Frage: Wie geht es ihm emotional? Ist es sozial eingebettet, kann es seine Emotionen regulieren? Kann man all diese Fragen bejahen, gibt es keinen Grund zur Sorge. Ist das Kind gesund, fit, konzentriert, aktiv und emotional stabil oder ausgeglichen, braucht man sich nicht zu sorgen, egal was es isst. Nährstoffmangel bei Kindern gibt es nur sehr, sehr selten. Denn wenn ein Kind wirklich gesundheitlich auffällt, braucht es sowieso ärztliche Unterstützung und vertiefte Abklärungen.

Und trotzdem irritiert es, wenn ein Kind immer nur Pasta isst...

Oft ist es vielleicht nicht nur die Sorge, dass das Kind nicht gesund bleibt, sondern auch eine Zukunftssorge: Wird mein Kind immer so selektiv essen? So wird es nie Neues kennenlernen... Und es könnte mit seinem Verhalten auffallen.

Die Art, wie Kinder essen, unterscheidet sich oft von uns Erwachsenen.

Und zwar aus gutem Grund. Ein Beispiel: Ich erhalte einen Linseneintopf mit Gemüse. Das löst bei mir eine innerliche Reaktion aus. Durch meine Erfahrung weiss ich, was da vor mir steht: Ich sehe die Linsen, sehe das Gemüse und kann die verkochte Peperoni, den Stangensellerie und die Tomatenresten erkennen. Ich weiss, dass ich davon einen leichten Blähbauch kriegen kann, was mir aber egal ist, weil der Eintopf dafür sehr nährend ist. Ich habe ein Konzept von diesem Mischmasch und kann beurteilen, ob ich das mag. Beim Kind ist das anders: Es muss Geschmäcker, Zubereitung, Konsistenzen und alles, was es antrifft, erst lernen. Es muss erst lernen, wie eine Tomate in allen möglichen Stadien und Geschmacksrichtungen sich anfühlt, aussieht und schmeckt.

Ist das der Grund, wieso viele jüngere Kinder keine gemischten Gerichte wie Eintöpfe mögen?

Kinder sind oft Komponenten-Essende. Sie wünschen alles getrennt auf dem Teller. Nichts vermischt, nichts darf sich berühren, möglichst im rohen Zustand, nicht verkocht. Unbewusst richten sie es so ein, damit sie gut lernen können. Zum Vergleich: Wenn wir eine Mathe-Aufgabe lernen, lernen wir auch zuerst die Zahlen und Grundrechenarten, bis wir uns irgendwann an eine komplizierte Formel wagen. Und bei Kindern ist das beim Essen sehr ähnlich. Es hilft also, wenn wir verstehen, warum das Kind das Essen nicht vermischen kann oder will.

Gibt es noch andere Aspekte des kindlichen Ernährungsverhaltens, die wir verstehen sollten?

Ganz wichtig ist: Essenlernen benötigt Lernenergie. Kinder benötigen freie Energie, um sich mit Nahrungsmitteln auseinanderzusetzen. Wieder der Mathe-Vergleich: Wenn wir müde sind und jemand verlangt von uns, sofort eine komplizierte Mathe-Aufgabe zu lösen, würden wir zusammenbrechen und weinen – wir können das in diesem Moment nicht leisten. Und jetzt ein alltägliches Beispiel eines Kindes: Das Kind kommt abends müde von der KITA nach Hause und soll nun ein gemischtes Gericht essen, das ihm nicht vertraut ist. Es ist total überfordert, beginnt zu weinen und zu toben. Das passiert ganz oft. Wenn wir verstehen, dass das Kind jetzt eigentlich gar keine Kapazität mehr frei hat, um Neues zu lernen, vermeiden wir Frust und Streit. Neues Lernen braucht so erstmal freie Energie. Wenn ein Kind müde ist, keine Chance. Und noch etwas sollten wir verstehen: Kinder sind Phasen-Essende.

Phasen-Essende?

Alle, die Eltern oder Bezugspersonen sind, in einer Kita arbeiten oder sich an die eigene Kindheit erinnern, wissen, wie krass solche Phasen aussehen können. Es gibt Kinder, die essen vielleicht zwei Jahre einfach Pasta. Ohne etwas dazu. Und spannenderweise geht es diesen Kindern gut. Und das ist aus ernährungsphysiologischer Sicht eigentlich super interessant: Warum geht es diesen Kindern gut, wenn sie doch nur Pasta essen? Ich glaube, eine einfache Antwort fällt auch der Ernährungsphysiologie schwer. Für uns wichtig dabei: Wie können uns entspannen. Wie der Kinderarzt und Autor Remo Largo schreibt: Alles ist eine Phase, es geht vorbei. Die Erfahrung zeigt, dass Kinder, die ein entspanntes Ess-Verhalten haben, sprich auch keinen Druck erfahren rund ums Essen, mehr Kapazität frei haben, zu entdecken. Also so quasi Möglichkeiten haben für «freies Lernen».

Du plädierst für eine entspannte Tischsituation. Wie erreicht eine Familie diese?

Wenn wir das Kind in eine entspannte Ess-Situation bringen wollen, müssen wir systemisch denken. In jeder Familie ist die Alltagsrealität mit Eltern, Bezugspersonen und Geschwistern eine andere. Jede Familie bringt andere Voraussetzungen für eine entspannte Tischsituation mit. Entscheidend ist immer, was überhaupt zu Spannungen führt. Oft sind es Überzeugungen und Erwartungen: Beispielsweise denken wir, wir oder die Kinder werden krank, wenn wir nicht in einer gewissen Weise essen. Die Familie sollte nun reflektieren; Woher kommen diese Erwartungen? Beruhen sie auf realen Fakten, eigenen Erfahrungen und Sorgen? Oder handelt es sich vielleicht gar um Fake News? In einem zweiten Schritt ist es wichtig, zu überlegen: Was ist mir beim Essen wichtig? Was entspannt mich selbst, wenn ich esse?

Warum ist der eigene Bezug zum Essen wichtig?

Eltern sind die idealsten Vorbilder für Kinder. Kinder lernen auch ganz stark am Modell. Sprich, wenn Eltern einen entspannten Umgang mit dem Thema Essen haben, dann sehen Kinder sogar stellvertretendes Essen. Ein Elternteil, der gerne ausprobiert und genussvoll isst, kann beim Kind die Neugier wecken, selbst auszuprobieren.

Kann ich als Elternteil also einfach kochen, worauf ich Lust habe?

Was ich immer sehr stark empfehle, ist einen sogenannten «Safe-Food» parat zu haben. Den haben wir Erwachsenen auch, das ist ein Essen, das immer geht. Bei meinem Sohn ist dieser «Safe-Food» Reis mit Soja-Sauce oder eine Milchflasche. «Safe-Food» ist ein Essen oder eine Speise, die den Kindern nichts abverlangt – das ist natürlich bei jedem Kind etwas anders. So kann ich kochen, was ich mag, und das Kind darf probieren. Vielleicht mische ich nicht alles – aber ich habe nicht die Erwartung, dass das Kind das isst. Passt das nicht, hole ich den «Safe-Food». So ermutigen wir, zu probieren, aber ohne Druck. Die Bedingung für Safe-Food ist aber, dass es kein relevanter Zubereitungsaufwand für die Bezugspersonen ist.

Wie kann man das Erlernen von Geschmack sonst unterstützen?

Es lohnt sich auch, auf den Zeitpunkt zu achten. Wie vorher bereits erwähnt, am Abend nach der KITA macht das nicht viel Sinn. Aber ich kann das Kind zum Beispiel miteinbeziehen, wenn ich für einen Brunch etwas vorbereite. So kommt es mit Lebensmitteln und Geschmäcken in Kontakt und lernt spielend.

Oft werden Lebensmittel in «gesund» und «ungesund» unterteilt. Macht diese Unterteilung Sinn?

Also grundsätzlich gibt es keine Lebensmittel, die gesund und ungesund sind. Ich zitiere die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung SGE, die offiziellen Empfehlungen: Es geht immer um die Kombination, um die Menge. Darum spricht die SGE auch schon ganz lange von einer ausgewogenen und nicht von einer gesunden Ernährung. Grundsätzlich kommt es auf die Menge und die Verteilung an.

Weiter gibt es psychologische Effekte: Was passiert, wenn ich etwas in gut und schlecht unterteile? Es gibt den sogenannten Placebo- und den sogenannten Nocebo-Effekt. Im Gegensatz zur positiven Wirkung beim Placebo-Effekt trifft beim Nocebo-Effekt eine negative Wirkung ein, nur weil ich sie erwarte. Mein schlechtes Gewissen wegen «ungesunden» Lebensmittel beeinflusst gar meine Verdauung.

Was spricht weiter dagegen, dem Kind «gesunde Lebensmittel» zu vermitteln?

Welche Lebensmittel würde ein Vater oder eine Mutter als «gesund» bezeichnen? Sicher nicht den feinen, süssen Vanillepudding, sondern Lebensmittel mit Geschmäckern, die das Kind zu Beginn herausfordernd sind. Zum Beispiel Salate oder Brokkoli. Diese enthalten Bitterstoffe – etwas, das ein kleines Kind aus evolutionären Gründen eher meidet. Denn bitter könnte giftig sein. Das sind also Geschmäcker, die das Kind noch erlernen muss. Wenn wir dem Kind nun aber sagen, diese Lebensmittel seien die Gesunden, speichert es «gesund» als «nicht fein» ab. So erreichen wir eine Prägung, die wir so nicht beabsichtigen: «Ungesund» gleich «fein». Auch auf Erwachsene haben solche Prägungen noch starke Effekte: Beispielsweise assoziieren wir Lebensmittel mit einem Bio-Label als gesund. Gesund steht für Erwachsene dann für eine tiefere Energiedichte. Das Label sagt aber über die Zusammensetzung noch nichts aus, beispielsweise über den Zucker-Anteil. Wir nehmen also vielleicht mehr davon, nur weil wir es als «gesund» kategorisieren.

Zu werten macht also keinen Sinn. Sicher können wir den Kindern lernen, was Energie gibt, und was nur kurzfristig Energie gibt. Aber mit einer Einteilung in gut und schlecht erreichen wir nur, das emotionales Essen viel stärker geprägt wird.

Später in der Schule lernen die Kinder diese Unterteilung in «gute» und «schlechte» Lebensmittel allerdings auch. So sortieren sie beispielsweise mit Schulzahnpflege-Instruktorinnen die Lebensmittel nach diesen Kriterien?
Mittlerweile versucht man wirklich in breiten Feldern der Gesundheitsförderung, auf eine solche Wertung zu verzichten. Aber natürlich: In Kindergärten und Schulen wird das manchmal noch so vermittelt, weil die Erwachsenen bereits so geprägt sind.

Darum sage ich, die Erwachsenen müssen bei sich beginnen. Es geht gar nicht um die Kinder, sondern die Erwachsenen müssen bei ihrer Prägung beginnen: Was haben sie für Überzeugungen? Und welche Überzeugungen geben sie da eigentlich ungefiltert weiter? Und gerade rund ums Essen sind diese Überzeugungen gigantisch krass.

Was für Überzeugungen zum Beispiel?

Zum Beispiel die Tischmanieren: Oft beharrt man stark man auf Tischmanieren, die den Kindern gar nicht entgegenkommen. Warum beharren wir darauf? Einfach, weil man es so macht? Solche Dinge müssen wir hinterfragen und genau hinschauen.

Oft kommen sich verschiedene Überzeugungen auch in die Quere...

Ein gutes Beispiel wäre grad der Unterricht zur Zahngesundheit, den du vorhin thematisiert hast: Hier wird in der KITA oder im Kindergarten beispielsweise vermittelt, dass die Banane ein «ungesundes» Znüni ist. Hintergrund ist, dass der Zucker aus der Banane lange an den Zähnen haften bleibt, wenn die Kinder eine Banane zum Znüni essen. Da sie dann länger nicht Zähne putzen, ist das zahnschädlich. Nach diesem Unterricht speichert das Kind ab: Bananen sind ungesund. Bei dieser Aussage rauft sich eine Ernährungsfachperson die Haare, aus Sicht der Zahngesundheit ist sie aber begründet. Das ist genau der Punkt: In der Ess-Erziehung werden verschiedene Konzepte und Ansätze vermischt. Die Verunsicherung, die wir Erwachsenen erleben, wirken sich auf die Kinder aus.

Wie sollte man damit umgehen?

Beim vorher genannten Beispiel kann man gut eingrenzen. Man kann sagen, was gut für die Zähne ist und was nicht – aber man muss es genau so formulieren und nicht vermischen. Ansonsten ist Ernährung ein sehr kompliziertes Gesundheitsförderungsthema. Viele Fachrichtungen beschäftigen sich damit. Darum müssen wir Essen, Ernährung, Kindererziehung usw. immer interdisziplinär besprechen. Und im interdisziplinären Kontext handhaben. Es gibt nicht nur die psychologische Seite, die ernährungsphysiologische Seite und nicht nur die pädiatrische Seite. Es ist ein komplexes Zusammenspiel. Und im Endeffekt müssen wir auch uns getrauen, Individuen anzuschauen. Wir müssen individuelle Familiensituationen anschauen und Empfehlungen so zu formulieren, dass sie auch in einem individuellen Kontext schlüssig sind. Beispielsweise sind Kinder mit einer Neurodiversität ganz anders zu begleiten als neurotypische Kinder.

Gibt es ein Beispiel, wo diese interdisziplinäre Zusammenarbeit gut funktioniert?

Ja, beim Purzelbaumprojekt von Radix. Das ist ein ganz tolles Projekt in den Kindergärten und Schulen. Es geht darum, dass sich die mitmachenden Kindergärten diesen Aspekten bewusst werden. Tatsächlich beobachte ich dort einen Wertewandel. Personen aus dem schulischen Bereich realisieren, dass die traditionelle Wissensvermittlung zum Thema Essen nicht richtig funktioniert. Und sie merken, dass es andere Konzepte braucht. Eben zur Stärkung eines positiven Körperbildes zum Beispiel, die Förderung eines intuitiven Essens oder die Förderung eines entspannten Essverhaltens. Das findet bei diesen Lehrpersonen langsam Einzug, bei Ernährungsfachpersonen hat dieser Wandel schon länger stattgefunden.

Welche Verhaltenstipps gibst du, wenn man mit Kindern am Tisch isst?

Wir bieten Essen an, aber wir zwingen nicht. Wir zwingen sie auch nicht, zu probieren. Wir nehmen Druck raus und bestärken die Kinder in ihrer Wahrnehmung. Wir können sie fragen: Wie fühlt sich das an? Wie fühlt sich dein Bauch an? Wir können sie anleiten, auf den Körper zu achten. Und wir können sie bei der Menu-Erstellung einbeziehen, sie experimentieren lassen. Wir sollten Lebensmittel nicht werten und nicht zur Belohnung oder Bestrafung verwenden.

Was macht man, wenn ein Kind übergewichtig ist?

Mein absolutes Lieblingsthema. Kinder sind genau richtig, wie sie sind. Eine Hochgewichtsentwicklung ist sehr multifaktoriell. Ein riesig grosser Anteil ist Genetik. Es gibt Erkrankungen, die ganz klar auf eine Hochgewichtsentwicklung einzahlen, zum Beispiel Stoffwechselerkrankungen. Wenn ein Kind hochgewichtig ist, dann muss man immer genau die gleichen Fragen stellen, wie bei jedem anderen Kind. Ganz egal, wie das Kind aussieht, sind dies: Wie geht es dem Kind? Ist es gesund, ist es fit, ist es konzentriert, geht es ihm emotional gut? Muss man eine dieser Fragen mit Nein beantworten, besteht eh Handlungsbedarf. Sind alle Fragen mit «Ja» beantwortet worden, ist das Kind offensichtlich gesund. Bleibt die Frage: Warum ist das Kind hochgewichtig? Warum ist das überhaupt ein Problem? Klassischerweise beginnen jetzt Restriktionen, die das Kind zu spüren bekommt. Es begreift: Ich bin nicht gut, wie ich bin, etwas ist da nicht gut. Was macht es? Es fühlt sich nicht gut. Und jetzt beginnt die Spirale.

Welche Spirale?

Die Spirale von Interventionen: Das Kind darf nicht essen, was es will. Es darf nicht nochmals schöpfen oder es wird gefragt: ‘Bist du sicher, dass du noch Hunger hast?’ Die eigenen Wahrnehmungen des Kindes werden hinterfragt. Das Kind lernt z.B. Hunger auszuhalten und entkoppelt sich von seiner Körperwahrnehmung. Immer mehr erlebt das Kind, dass sein Körper nicht gut ist, wie er ist und leitet daraus ein negatives Körperbild ab. Darum ist es ganz wichtig, dass Kinder nie mit dem Thema konfrontiert werden. Vorallem dann nicht, wenn es nicht von ihnen aus angesprochen wird.

Was sollen Eltern stattdessen machen, wenn sie sich sorgen?

Sie sollen sich Hilfe holen. Und dann kann man das genau anschauen: Wo können sie ein Kind positiv unterstützen? Wo können sie ein Kind positiv bei Körperbild, beim intuitiven Essen oder bei einem intuitivem Bewegungsverhalten fördern? Dies anstatt das Kind jemals fühlen zu lassen, dass es nicht gut ist, wie es ist. Weil genau das ist der Trigger für eine Hochgewichtsentwicklung. Das ist der zentrale Präventionsansatz.

Du betonst immer wieder, dass es vor allem die Erwachsenen sind, bei denen man ansetzen muss.

Wir Erwachsenen sollten uns alle hinsetzen und die eigene Biografie und die Prägungen reflektieren: Von wo kommen meine Überzeugungen? Was sollen meine Kinder mitbekommen? Und dass Erwachsene Hilfe holen, wenn sie sich überfordert fühlen. Erwachsene müssen bei sich starten, damit sie entspannter werden und ihren Kindern mehr zutrauen.

Wie können Gemeinden und Fachpersonen eine gesunde Ernährung in den frühen Lebensjahren fördern?

Es gibt ganz viele mögliche Massnahmen. Das eine ist sicher, in die Förderung eines positiven Körperbildes zu investieren. Es gibt zahlreiche Projekte zur Healthy-Body-Image-Thematik. Im Bezug aufs Essen soll die Food Literacy, die Ess-Kompetenz, gestärkt werden. Dazu gehört, Wissen über Lebensmittel, über Herstellung, über Wachstum aufzubauen und Kochkompetenz zu entwickeln. Das sind sehr wichtige Faktoren, denn zum Beispiel das Thema hochverarbeitete Lebensmittel wird uns immer mehr beschäftigen. Verfügen Kinder über Kochkompetenzen, lernen und sehen, wie Gemüse wächst, entwickeln sie Freude an Lebensmitteln, am Kochen und Zubereiten, Freude am Essen, also Freude an Genuss. Fördern sollte man also eigentlich alles, was darauf einzahlt, dass Kinder ihren Körper gut wahrnehmen können. Aus dem Ausland kennen wir sehr schöne Konzepte, beispielsweise die «Schule des Essens», wo Kinder vom Anbau bis zum Genuss alles vermittelt bekommen.

Gleichzeitig müssen wir an der Verhältnisebene schrauben: Der grösste Risikofaktor für Hochgewichtigkeit ist sozio-ökonomische Ungleichheit. Hier kann eine Gemeinde zum Beispiel in Gemeinschaftsgastronomie investieren, es gibt sehr gute Konzepte für KITAS und Schulen.

Im Zentrum bleiben sollte stets: Essen ist ein sozialer, ein genuss- und freudvoller Akt. Wird das so gelebt, zahlt das auch auf das Gesundheitskonto ein.

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