Expertengespräch: Änderung in der Drogenpolitik erwünscht
2022 haben sich eine Expertin und vier Experten zu einem Gespräch über die Suchtarbeit in der Covid-19-Pandemie getroffen. Neben den Pandemieerfahrungen thematisieren sie auch die aktuelle Drogenpolitik. Sie sind sich einig: Zum Wohl der Menschen mit einer Suchterkrankung braucht es Veränderungen in der Politik und eine Entkriminalisierung der aktuell illegalen Substanzen. Sie setzen sich alle für dieses Anliegen ein, als Fürsprecher für Menschen mit einer Suchterkrankung.
Artikeldetails
Eine Runde mit fünf Suchtfachpersonen, eine aus den USA, vier aus der Schweiz. Trotz unterschiedlicher Herkunft sind sich die fünf rasch einig: Die aktuelle Drogenpolitik sowohl in der Schweiz als auch in den USA ist unbefriedigend. «Fakt ist», so Thilo Beck, Co-Chefarzt vom Suchtmedizinzentrum arud, «dass auch die politische Situation unsere Patientinnen und Patienten krank macht. So bin ich zwar Psychiater, aber auch ein Fürsprecher für sie – ich versuche die politische Situation für sie zu ändern. In der heutigen Situation behandeln wir den Schaden, den die Politik kreiert – aus klinischer Perspektive ist das unhaltbar.» Solange Substanzen illegal sind, blüht der Schwarzmarkt und die Substanzen können weder kontrolliert noch reguliert werden. Wären Drogen legal, könnten betroffene Menschen besser behandelt werden und die Prävention wäre einfacher. Alle Experten in der Runde sind sich einig: Es braucht eine Veränderung. Doch wie kann diese erreicht werden? Und warum hat sich in den vergangenen Jahren nichts geändert?
Status quo sichert Jobs in den USA
Carl Hart, Neurowissenschaftler aus den USA, erzählt von den Regulierungen der Drogen in seinem Heimatland. Die Situation sei kaum mit der Schweiz vergleichbar, da der Grössenunterschied der Länder enorm sei. Während Regulierungen in der Schweiz Drogenprobleme beheben sollen, stehe in den USA der Erhalt von Jobs im Vordergrund. «Die Drogenregulierung ist eines der grössten Job-Programme, die wir haben», erklärt Hart. «Dieses Job-Programm ist für sehr viele Menschen sehr wichtig, von jenen, die Urinproben nehmen, über die Polizei, bis hin zu Gefängnisangestellten oder den Film- und Medienschaffenden. Und ohne die Menschen, die unter den Drogen leiden, sprich abhängig sind, funktioniert dieses Job-Programm nicht». Todesfälle im Zusammenhang mit Drogenkonsum steigen in den USA. Hart kritisiert, dass in den USA zu wenig unternommen werde, um drogenbedingte Todesfälle zu verhindern. Es bräuchte mehr und genauere Daten, z.B. welche Drogen für den Anstieg der Todesfälle verantwortlich sind. «Auch in der Schweiz bräuchten wir bessere Daten», gibt Suchthilfe-Professorin Barbara Broers zu bedenken. «Zum Beispiel um zu verstehen, ob die vermehrte Opioid-Nutzung positiv im Sinne von Krankheitsbehandlung ist, oder ob hierzulande ähnliche Entwicklungen wie in den USA bevorstehen könnten».
In der Schweiz fehlt öffentlicher Diskurs
In der Schweiz habe es in den letzten Jahren vor allem keine Veränderung gegeben, weil die Suchtprobleme für die Öffentlichkeit nicht mehr sichtbar sind. «Wir sind Opfer des Erfolgs unseres Behandlungssystems», meint Thilo Beck. «Wir haben in der Schweiz erreicht, dass die offene Drogenszene verschwunden ist und die Leute weniger offensichtlich darunter leiden. Das hat viel Dynamik aus der Politik genommen. Menschen suchen keine Veränderung, wenn da kein sichtbares Problem ist.» Ein weiteres Problem: Personen mit Suchterkrankungen organisieren sich nicht, um für eine Verbesserung der Situation einzustehen. Es gibt keine organisierte Gruppe von Betroffenen, die Druck auf die Politik macht. «Wir Fachpersonen setzen uns zwar ein, dass es Veränderungen gibt, aber wir haben die Betroffenen dabei nicht auf unserer Seite», so Beck. Carl Hart empfiehlt, die gutsituierten Menschen, die in der Schweiz Drogen konsumieren, an Bord zu holen. Allerdings sind sich die Experten aus der Schweiz einig: Dafür lässt sich niemand gewinnen, in der Schweiz will sich niemand exponieren. «Wenn es verboten ist, ist es verboten – da wird nicht öffentlich darüber gesprochen», bedenkt Barbara Broers. «Es ist paradox: Bei Alkohol und Zigaretten sprechen Schweizerinnen und Schweizer von der wichtigen Freiheit, zu wählen, was man konsumiert.» Bei verbotenen Substanzen sei das hingegen nie ein Thema.
Aufgrund ihrer Praxiserfahrung ist Barbara Broers seit Jahren ziemlich überzeugt, dass bisher verbotene Substanzen legalisiert werden sollten. «Aber wenn man sich als Ärztin so äussert, setzt man sich selbst in eine Verteidigungsposition. Denn die Leute könnten denken, ich ermutige zu Drogenkonsum – was sicher nicht stimmt.» Es sei sehr schwierig, den richtigen Ton zu finden, solange es um illegale Substanzen gehe. «Wenn ich meinen Patienten rate, sich für ihre Gesundheit mehr zu bewegen, weniger Zucker oder Fett zu essen, kann ich das so machen, wie ich es gelernt habe: Ich berate und begleite sie.» Bei Menschen mit einer Suchterkrankung sei das nicht in gleicher Weise möglich – eine Entkriminalisierung der Substanzen würde das ändern.
Drogenkonsum – ein Verfassungsrecht?
Carl Hart setzt sich klar für die Entkriminalisierung von Substanzen ein. Er ist überzeugt, dass man für eine Entkriminalisierung mit der Verfassung argumentieren könne: «Die Schweizer Verfassung garantiert die persönliche Freiheit, auch die mentale Integrität. Das meint, Bürgerinnen und Bürger können ihre eigene Welt kontrollieren. Das beinhaltet auch psychoaktive Drogen.» Eine Gesellschaft wolle nach den Idealen leben, die in ihrer Verfassung festgelegt seien – das gäbe Raum für Argumente: «Nach diesen Idealen sollten die Menschen das Recht haben, ihr Bewusstsein [zum Beispiel mit dem Konsum von illegalen Substanzen] zu verändern». Beim Ausüben dieser Rechte dürfte aber natürlich niemand zu Schaden kommen – das müsste gesetzlich geregelt werden. Die Experten aus der Schweiz sind eher skeptisch, dass diese Argumentation hierzulande funktionieren würde. «Sogar die Parteien rechts am Rand, die sich sehr für Liberalismus einsetzten, verweigern sich, dieser Logik zu folgen», bedenkt Thilo Beck.
Neue Allianzen schmieden?
«Wenn wir als Experten aufstehen, wird das nicht richtig ernst genommen», bedauert Thilo Beck. «Ich erzähle die gleichen Inhalte seit Dekaden. Ich weiss, wir Fachleute haben recht, aber niemand glaubt uns.» Also müsse man Koalitionen mit anderen Feldern finden. «Wir brauchen mehr Stimmen, breiter abgestützt. Darum denke ich, dass sich Leute, die Substanzen konsumieren, uns anschliessen sollten. Oder Juristinnen und Richter. Wir sollten unsere Koalition in andere Felder ausweiten, die uns helfen und uns unterstützen.»
Frank Zobel, Co-Leiter des Forschungssektors bei Sucht Schweiz, versucht das über die Wissenschaft: «Als Wissenschaftler versuche ich immer Licht darauf zu bringen, was nicht gesehen wird». Sein Credo: «Immer untersuchen, immer zeigen.» So könne man Leute zusammenbringen. In der Schweiz sei der Dialog die Basis für alles. So könne man zeigen, dass es andere, bessere Wege als das aktuelle Gesetz gäbe, mit denen die Probleme gelöst werden könnten. Über die parlamentarischen Kommissionen könne man das schliesslich politisch einbringen. «Wir können uns mit unserem System in der Schweiz glücklich schätzen – es ermöglicht grundsätzlich Wandel.» Beim letzten Versuch, gewisse Substanzen zu entkriminalisieren, sei der Zeitpunkt ungünstig gewesen: Die SVP, welche eher eine repressive Drogenpolitik befürwortet, habe stark zugelegt, es seien andere Prioritäten gesetzt worden. «Der Gesetzesentwurf damals war sehr reichhaltig, mit Entkriminalisierung für Drogenkonsum, legalem Cannabis-Markt und der Institutionalisierung der Schadensminderung», erinnert sich Zobel. Das Parlament habe den Vorschlag abgelehnt, was den Status quo der letzten Jahre erkläre: «Das ist der Preis, den man in der Schweiz bezahlen muss. Wenn man Parlament und Bevölkerung nicht überzeugen kann, wird danach zehn Jahre nichts mehr gehen – denn der politische Wunsch kam nicht durch.»
Bewegung in der Cannabispolitik
In einem Bereich beobachtet die Expertenrunde allerdings sowohl in den USA als auch in der Schweiz eine Veränderung: In der Cannabispolitik. Vielerorts komme es in den USA zu Cannabis-Legalisierungen, vor allem weil sich die Cannabis-Industrie erfolgreich dafür einsetzt. Mit den Pilotversuchen und einigen politischen Vorstössen tut sich auch in der Schweiz einiges. Zobel zeigt sich zuversichtlich: «Jetzt ist das Fenster wieder offen. Die Möglichkeit, den Wechsel zu erreichen, ist wieder da. Dieses Mal sollten wir es nicht verpassen.» Er gibt allerdings zu bedenken, dass sich die Frage einer Cannabis-Legalisierung heute anders gestaltet als vor zwanzig Jahren: «Aktuell gibt es eine Cannabis-Industrie, die sich ihre Position sichern will. Das macht alles komplizierter. Es gibt neue Player im Feld, mit denen wir umgehen müssen.» Barbara Broers befürchtet, dass die Schweiz zwar nun über eine Cannabis-Legalisierung diskutiert, die Regulierung von anderen Substanzen aber wieder versäumt. «In den 90er Jahren waren wir so auf die Problemlösung und HIV fokussiert, dass wir vergessen haben, über Regulierung zu sprechen. Aktuell könnten wir nochmals 20 Jahre verlieren, weil wir nur über Cannabis reden.» Unterstützung für eine Veränderung erhofft sich Broers durch internationale Entwicklungen, wie zum Beispiel die Diskussion in der globalen Drogenkommission. «Diese ist sehr wichtig, weil sie Rückhalt gibt,» bedenkt Broers. «Wir sind aktuell auch sehr blockiert wegen internationalen Regulatorien.» Internationale Veränderungen würden auch hierzulande Veränderungen erleichtern. Die fünf Experten zeigen sich realistisch: Eine umfassende Änderung der Drogenpolitik benötigt Zeit.
Im Rahmen der Aufarbeitung der Erkenntnisse aus der Covid-19-Pandemie hat das Bundesamt für Gesundheit BAG ein Gespräch zwischen Suchtexpertinnen und -experten initiiert. Das Gespräch ist auf Video aufgezeichnet worden, zu dem auf prevention.ch dieser und ein weiterer, zusammenfassender Artikel publiziert werden. Die Fachleute haben über die Auswirkungen der Pandemie auf den Suchtbereich, aber auch über die Notwendigkeit, die Drogenpolitik weiter zu reformieren, diskutiert.
Die Diskussion, die Schlussfolgerungen und die Empfehlungen in diesem Gespräch, bilden die Haltung und Gedanken der einzelnen Expertinnen und Experten ab. Sie können daher von der Meinung und den Positionen des BAG abweichen.
Folgende Personen haben mitdiskutiert:
- Thilo Beck, Co-Chefarzt Arud, Zürich
- Barbara Broers, Professorin für Suchtmedizin und Suchtmedizinerin HUG, Genf
- Carl Hart, Professor Neurowissenschaften und Psychologie Columbiama University, New York
- Frank Zobel, Vizedirektor und Co-Leiter des Forschungssektors Sucht Schweiz, Lausanne
- Romain Bach, Co-Generalsekretär GREA, Lausanne (Moderation)
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