«Jede Person, die ins Living Museum kommt, geht verändert wieder raus»
Im Living Museum in Wil SG können sich psychisch kranke Menschen als Künstlerinnen und Künstler verwirklichen. Das Ziel dahinter: Ein Identitätswechsel vom psychisch kranken Menschen zum Kunstschaffenden, in einer Atmosphäre von Gemeinschaft, Solidarität und Kreativität. prevention.ch hat Rose Ehemann, Direktorin des Living Museum, zum Projekt befragt. Sie ist überzeugt, dass das Living Museum ein Gewinn für die ganze Gesellschaft ist.
Artikeldetails
Rose Ehemann, was ist das Living Museum?
Es ist ein Kunstasyl für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Entscheidend ist eine stressfreie Atmosphäre, da Menschen mit psychischen Erkrankungen erwiesenermassen stressintolerant sind. Es ist ein Ort der Wärme, an dem jeder und jede willkommen und akzeptiert ist, egal welche Symptome, Gefühlszustände und andere Besonderheiten er oder sie mitbringt. Es ist eine familiäre Community, in der Solidarität an erster Stelle steht; ein Schutzraum, der von Betroffenen mehrheitlich selbst organisiert und im Sinne der Inklusion mitgestaltet wird. Es ist Wirk- und Ausstellungsstätte zugleich und entfaltet aufgrund der bahnbrechenden kreativen Atmosphäre grosse Strahlkraft. Das Living Museum Wil ist ein Zusammenschluss der Ateliers Living Museum und Naturateliers der Psychiatrie St. Gallen Nord sowie der Tagesstätte der Stiftung Heimstätten Wil.
Woher kommt die Idee?
Seinen Ursprung hat das Living Museum im Creedmoor Psychiatric Center in New York. Die beiden Gründer Dr. Janos Marton und Bolek Greczynski haben das Living Museum im Jahre 1983 gegründet und als Künstler mit ihrer innovativen Philosophie geprägt. An der WHO-Konferenz in Südkorea wurde es sogar als vierte Revolution in der Geschichte der Psychiatrie bezeichnet – nach der «no restraint»-Bewegung, also der Befreiung der Menschen mit psychischen Erkrankungen von den Ketten und Zwangsmassnahmen, nach Psychoanalyse und Psychotherapie und nach der Einführung der Psychopharmaka. Mittlerweile ist daraus eine Kunstbewegung entstanden. Das Living Museum Wil war das zweite weltweit, mittlerweile gibt es 16 Museen weltweit, z. B. in Georgien, Südkorea, Deutschland und Holland. 25 weitere sind im Aufbau.
Also eine globale Bewegung?
Unser Living Museum in Wil zeichnet sich nicht nur durch die globale Verbreitung und Vernetzung aus, sondern folgt sehr vielen schweizerischen Tugenden. Föderalistisch organisiert, basisdemokratisch geführt, durchdrungen von Humanismus und Solidarität – und sparsam. In der Schweizer Tradition stehen Kunst und Heilung bereits seit 1915 im engen Zusammenhang: C.G. Jung, der am Burghölzli in Zürich lehrte, war ein Wegbereiter dafür. Seelenzustände in Kunst zu äussern war wesentlicher Teil seiner Tiefenpsychologie. Nicht zu vergessen den weltberühmten, an Schizophrenie erkrankten Künstler Adolf Wölfli. Ihm wurde sogar ein eigenes Museum in Bern gewidmet.
Wer profitiert vom Living Museum in Wil, wer darf dort kreativ sein?
An erster Stelle Menschen mit psychischen Erkrankungen aus dem gesamten psychiatrischen Spektrum. Zudem alle, die Interesse am Mitwirken haben. Es findet eine Durchmischung aller Bevölkerungsgruppen statt, die Durchlässigkeit ist hoch. Schülerinnen und Schüler, Studierende, Auszubildende, Flüchtlinge, junge Menschen, Seniorinnen und Senioren, Personen von RAV-Arbeitseinsätzen oder von der Freiwilligenarbeit – sie alle profitieren vom Living Museum im Sinne einer Akademie oder auch im Sinne eines Recovery-College, das Persönlichkeitsentfaltung für jede Person möglich macht.
Sie sagen, dass vom Living Museum die ganze Gesellschaft profitiert ...
Ja, das Living Museum hat das Potential, ein grosses gesellschaftliches Problem zu lösen. Aktuell zum Beispiel gibt es eine durch die Pandemie ausgelöste Zunahme von Depressionen – auch bei jüngeren Menschen. Es gibt kaum Angebote und Anlaufstellen, die Kliniken sind überfüllt. Hier kann das Living Museum viel abfedern. Und vor allem hilft es, die Gesundheitskosten längerfristig zu senken. Dies aus drei Gründen:
- Ein Direktor oder eine Direktorin eines Living Museum kann bis 150 Personen betreuen – normalerweise sind die Personalkosten der grösste Posten in der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Das Living Museum ist als Ergänzung zur psychiatrischen Behandlung zu sehen. Parallel dazu und/oder im Anschluss. Es könnte auch in Teilen den Pflegefachkraftmangel, der in gravierendem Ausmass auf uns zukommen wird, auffangen und einer Überlastung der Pflegefachkräfte vorbeugen.
- Das Living Museum bringt den Betreuten Stabilisierung, sprich weniger stationäre Aufenthalte. Ein Beispiel ist die sehr begabte Künstlerin Teresa Gozzer. Bevor sie ins Living Museum kam, benötigte sie jährlich mehrere stationäre Klinikaufenthalte. Seit sie im Living Museum ist, nun mehr als 15 Jahre, hat sie keinen einzigen stationären Aufenthalt mehr in Anspruch nehmen müssen.
- Aufgrund der Antistigma-Wirkung: Ein Living Museum steigert langfristig die Verständigung und Toleranz in der Gesellschaft. Wir glauben daran, dass dies sich auch in der Arbeitswelt auswirken wird und auf diese Weise mehr bedürfnisgerechte Angebote entstehen können.
Was bewirkt das Living Museum bei psychisch erkrankten Menschen?
Es bietet Persönlichkeitsentfaltung, eine Identitätsveränderung vom Kranken zum Künstler oder zur Künstlerin. In der Fachwelt sprechen wir von Recovery, eine Verbesserung der Lebensqualität. All das führt zu langfristiger psychischer Stabilisierung. Zudem wirkt es gegen Einsamkeit, Lebenskräfte und Ressourcen werden wieder aktiviert. Im Idealfall dient es als Übergang zurück ins Berufsleben, bei schweren chronischen Erkrankungen wird es manchmal auch lebensbegleitend in Anspruch genommen. Gleichbetroffene unterstützen sich gegenseitig und es dient der Suizidprävention.
Allem voran ist es «evidence-based»: Das New Yorker Projekt existiert seit 40 Jahren und hat vielen Menschen ein Leben in Gemeinschaft, Sicherheit und Würde zurückgegeben und viele geheilt. Das Living Museum Wil existiert seit 20 Jahren und kann ähnliche positive Entwicklungen vorweisen. Jeder, der einmal in einem Living Museum war, erkennt auf den ersten Blick das hohe und gesellschaftsrelevante Potenzial des Projekts.
Wie sieht der Alltag im Living Museum aus?
Je nach Living Museum sind die Öffnungszeiten unterschiedlich. In Wil haben wir von Montag bis Freitag, 8-12 und 13-17 Uhr geöffnet, am Samstag von 8-12 Uhr. Wer will, kann über Mittag Pause im Café Living Museum machen, das von psychisch erkrankten Menschen geführt wird und auch für auswärtige Gäste geöffnet ist.
Das Living Museum bietet viel Freiraum für Selbstentfaltung. Die Menschen kommen dorthin und werden zum Kunstschaffen inspiriert, durch die anderen Kunstschaffenden oder die Leitung vor Ort. Zwischendurch können sie Pause im Café Living Museum machen, wo sie sich untereinander austauschen und in Kontakt mit auswärtigen Gästen kommen. Auch das Café gilt als Kunst-Café: Es gibt Ausstellungen und es wird Wert auf ästhetisch ansprechende und gesunde, wohlschmeckende Kulinarik gelegt. Durch die befruchtende Zusammenarbeit mit den Naturateliers und der Tagesstätte setzen wir immer wieder viele öffentlichkeitswirksame und ganzheitliche Kunstprojekte um.
Sind psychisch erkrankte Menschen aufgrund ihrer Krankheit automatisch gute Künstler?
Grundsätzlich tragen alle Menschen künstlerisches Potential in sich. Durch die psychischen Extremerfahrungen haben Betroffene jedoch teilweise Zugang zu anderen Welten, «wo die Engel fliegen», die sich in der Kunst zeigen. Sie erleben andere Dinge, sind vielfach hochsensibel und spüren Gefühle intensiver. Meist sind es genau diese Symptome einer psychischen Erkrankung, welche die Betroffenen in der Gesellschaft zu Aussenstehenden machen. Gelingt es, die in den Symptomen innewohnenden Energien in der Kunst zu kanalisieren, entstehen einmalige Werke, voller Kraft und Authentizität. Ein Beispiel ist der Living Museum Künstler Phillipp; in seinem Erleben sieht er Auras, hat er Zugang zu Seelenleben und bekommt seine Bilder aus diesen Welten. Die Werke geben uns Einblick in die Welt von Menschen, die andere Erfahrungen machen. Eine Welt, die uns sonst verschlossen bliebe. In unseren Kunstausstellungen, zum Beispiel an der Kunstmesse in Wil, die im kommenden Jahr 2022 wieder vom 9. bis 12. Juni geplant ist, werden viele Werke verkauft, weil sie so einzigartig sind. Aber es gibt im Living Museum auch eine künstlerische Ausbildung, die Kunstschaffenden inspirieren sich gegenseitig und bilden sich stetig weiter. Ausserdem haben sie in der Regel sehr viel Zeit zur Verfügung, die sie in die Kunst investieren können. Das hilft bei ihrer Professionalisierung – in 10 000 Arbeitsstunden wird man laut dem kanadischen Wissenschaftler Malcolm Gladwell zum Genie
An der Stakeholderkonferenz Sucht sagten Sie, die Gesellschaft müsse sich ins Living Museum integrieren. Können Sie erklären, wie Sie das meinen?
Inklusion darf nicht allein den Betroffenen zugemutet werden; das ist teilweise mit sehr stressvollen Erfahrungen verbunden. Und Stress ist erwiesenermassen für Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht zuträglich. Die Gesellschaft soll ins Living Museum kommen – als Museums-Besuchende. Dort sollen die Besuchenden erfahren, wie liebenswürdig und authentisch die Menschen sind, dadurch Berührungsängste abbauen und das Thema psychische Krankheit aus einer anderen und positiven Perspektive erfahren. Jede Person, die ins Living Museum kommt, geht verändert wieder heraus.
Aber auch unsere Kunstschaffenden kommen so in Kontakt mit der Gesellschaft, die vielfach sehr überrascht und begeistert ist von dem hohen künstlerischen Potential. Auch Angehörige, die vorher häufig Scham empfanden, sind plötzlich sehr stolz auf die Kunstschaffenden. Kunst ist immer verbunden mit hohem Prestige, damit ist sie auch ein sehr geeignetes Instrument in der Antistigma-Arbeit. Der Museumsgründer Dr. Marton gewann 2015 mit der Living Museum Philosophie den Dr. Guislain Award in Ghent, die höchste internationale Auszeichnung für Antistigma-Projekte.
Wieso gibt es nicht mehr solcher Museen?
Das Thema ist sehr komplex, die Kostenträger sind sehr unterschiedlich. Manchmal ist ein Living Museum als Tagesstätte aufgebaut, integriert in eine psychiatrische Klinik. Manchmal wird es über einen Verein oder über Fundraising finanziert – bisher existiert kein einheitliches Finanzierungs-Modell. Der persönliche Einsatz steht im Vordergrund, momentan basiert der Aufbau eines Living Museum auf ehrenamtlicher Arbeit, die jemand sich auch leisten können muss. Meine Vision ist eine national koordinierte Finanzierung. Der Living Museum Verein Schweiz ist noch recht jung und rein ehrenamtlich organisiert. Unser Living Museum in Wil, welches auch als Akademie zu betrachten ist, befindet sich in der Weiterentwicklungsphase hin zu einer Professionalisierung; d. h. wir möchten ein Zertifikat für die Menschen ausstellen, die sich als Living Museum Direktoren oder Direktorinnen bewährt haben und genügend Supervision erhalten haben. Im Living Museum Wil haben wir bereits sehr viele Menschen ausgebildet, die in der Lage sind, ein Living Museum zu leiten. Es gibt und gab in der Schweiz mehrere Bestrebungen, ähnliche Projekte aufzubauen – oft scheitert es an der Finanzierung oder weil geeignete Räumlichkeiten fehlen. Für das Living Museum Zürich versuchen wir nun mit Unterstützung von Prof. Dr. Erich Seifritz, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, ein Modellprojekt aufzugleisen. Dieses soll evaluiert und zum Vorbild für andere Kliniken werden.
Auf alle Fälle bräuchte es dringend mehr Living Museums – in jeder grösseren Stadt eines. Wäre die Finanzierung sichergestellt und einheitlich geregelt, gäbe es schon längst viel mehr. Living Museums sind, wie eben beschrieben, in der Lage, grosse gesellschaftliche Probleme zu lösen. Dies mit hohem Impact für uns alle – und im Besonderen für die Menschen mit psychischen Erkrankungen.
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