Stärkere Vernetzung von Gesundheit und Sozialem: Ein Aufwand, der sich lohnt
Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und der sozialen Situation ist schon lange bekannt und gut belegt. Warum aber werden Gesundheit und Soziales immer noch getrennt betrachtet? An der Stakeholderkonferenz des Bundesamts für Gesundheit BAG und dem Bundesamt für Sozialversicherungen BSV wurde das Potenzial der sektor- und professionsübergreifenden Zusammenarbeit ausgelotet. Ein Tagungsbericht.
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Im Begrüssungsgespräch stellte Irene Abderhalden, Professorin am Institut Soziale Arbeit und Gesundheit der FHNW eine ganz einfache Frage: «Warum sind wir heute hier?» Für die Vizedirektorin des BAG, Linda Nartey, war die Antwort klar: «Jede und jeder bestätigt, dass eine Zusammenarbeit zwischen Gesundheit und Sozialem unerlässlich ist. Dennoch treffen wir im Alltag nach wie vor auf zahlreiche Hindernisse. Als Beispiel sei hier etwa die Finanzierung der Leistungen genannt. Unser Krankenversicherungssystem ist nicht darauf ausgelegt, soziale Leistungen zu vergüten und umgekehrt.» Deshalb möchte das BAG die institutionelle Zusammenarbeit zwischen Gesundheit und Sozialem stärker fördern.
«Wichtig sei, miteinander zu reden» war die Antwort von Astrid Wüthrich, Vizedirektorin des BSV. «Gesundheit ist eine wichtige Voraussetzung, damit wir uns sozial integrieren können. Die soziale Einbettung und Gesundheit beeinflussen sich gegenseitig.» Obwohl man auf Bundesebene noch wenig direkt in der Hand habe, die Zusammenarbeit zwischen Gesundheit und Sozialem zu intensivieren, gebe es doch schon unzählige Praxisbeispiele in Kantonen und Gemeinden, wo diese Zusammenarbeit gut funktioniere.
Und damit war die 8. Stakeholderkonferenz Nationale Strategie Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (NCD) und 6. Stakeholderkonferenz Nationale Strategie Sucht im Kursaal Bern eröffnet. Über 250 Fachpersonen aus dem Sozial- und Gesundheitswesen kamen für Inputreferate, Subplenen und acht Workshops aus der ganzen Schweiz angereist und liessen sich über Good-practice-Beispiele informieren, diskutierten oder knüpften während den Kaffeepausen Kontakte. Coffee connects – Kaffee verbindet, mehr dazu weiter unten im Text.
Vernetzung im Sozialpädiatrischen Zentrum SPZ Winterthur
«Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Grossen.» Mit dem Zitat des Arztes und Politikers Rudolf Virchow (1821 bis 1902) begann der Chefarzt des Sozialpädiatrischen Zentrums Winterthur SPZ, Dr. med. Kurt Albermann, sein Referat zum Thema «Integratives, ressourcenorientiertes Gesundheitsmanagement am Beispiel der Sozialpädiatrie» und lotete dabei die Erfolgsfaktoren und Grenzen aus.
Bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen versucht man im SPZ stets die sozialen Bedingungen der Kinder und Jugendlichen zu erfassen. Das gelinge nicht immer, oft spüre man auch Zurückhaltung der Eltern – gerade bei Kindern mit hohen Belastungsschwierigkeiten zu Hause. «Sicher zu Hause. Aber zu Hause sicher?» sei eine Frage, die man sich immer wieder stellen müsse. Er wies darauf hin, dass eine Stärke des SPZ die transdisziplinäre Zusammenarbeit unter einem Dach und die guten Schnittstellen zu allen Netzwerkpartnerinnen und -partnern sei und zeigte auf einer Folie, wie das SPZ spinnennetzgleich mit unzähligen Fachstellen zusammenarbeitet. «Für die Behandlung und Betreuung sind Netzwerke nötig», so Kurt Albermann, «und das sind manchmal komplexe Netzwerke, wo man leicht den Überblick verliert. Deshalb ist es enorm wichtig, dass eine Politik der No Wrong Door herrsche, alle Stellen müssen sich koordinieren und über einen Fall Bescheid wissen.»
Wir brauchen eine Politik der No Wrong Door. Alle Stellen, die sich um Kinder und Jugendliche kümmern, müssen sich zuständig fühlen, sich koordinieren und über den Fall Bescheid wissen.
«Es braucht ein ganzes Dorf, um gesund zu werden.» Drogenpolitik am Beispiel von Gent, Belgien
Genesung muss immer aus der Gemeinschafts- und nicht nur aus einer Einzelperspektive betrachtet werden, war eine der Botschaften von Charlotte Colman. Menschen würden durch drei Komponenten dazu motiviert, von einer Sucht loszukommen. Die erste sei eine persönliche: Ich will nicht wegen meiner Sucht sterben. Die zweite sei eine soziale: Jemand trifft die Frau oder den Mann seines Lebens und will mit dieser Person glücklich werden. Die dritte Komponente sei eine gemeinschaftliche: Die Gemeinschaft, in der ich lebe, gibt mir die Möglichkeit, einen Job und ein Freizeitleben zu haben, mich engagieren zu können. «Wir konzentrieren uns in der Drogenpolitik immer noch zu stark auf Risiken und Fehler, stigmatisieren und schliessen Personen eher aus, als dass wir sie bestärken», so Charlotte Colman. Und das Widersprüchliche sei: «Fast alle Menschen sind in Befragungen dafür, Süchtige zu unterstützen. Fast alle Menschen sagen aber Nein, wenn es in der Wohnung nebenan passieren soll. Das sei das bekannte Nimby-Prinzip – Not in my backyard, nicht in meinem Hinterhof.»
Charlotte Colman konstatierte in ihrem Referat, dass wir vor allem dann skeptisch seien, wenn wir etwas nicht verstehen würden. Deshalb wurde in Gent, der zweitgrössten Stadt Belgiens, der Aktionsplan Inclusive Recovery Cities, integrative Recovery Städte entwickelt. Der Plan sei gar nicht so spektakulär. «Als Grundgedanke betrachten wir die Genesung eines Menschen als eine Co-Produktion.» In einem ersten Schritt wurde eine Kerngruppe mit verschiedenen Personen aus dem städtischen Leben ins Leben gerufen. Dabei solle die politische Ebene genauso vertreten sein wie Fachpersonen und Betroffene. Es müsse stets der Bottom-up-Ansatz verfolgt werden. Danach werden Aktionsmöglichkeiten entwickelt. An Plenen darf jede und jeder Vorschläge einbringen. Es sei zudem wichtig, bei solchen Anlässen eine Plattform zu schaffen, in der sich Menschen gerne austauschen und zusammen Ideen kreieren. «Coffee connects people» – Kaffee verbindet, meinte Charlotte Colman. Am Ende entstehen Aktionspläne, die ein breites Netzwerk miteinbeziehen, von strafrechtlichen Akteuren, über Präventionsbeauftragte, Arbeitgeber, Einwohnenden oder auch Betreuende. Das Konzept sei erfolgreich, so Charlotte Colman. Mittlerweile gibt es weltweit mehrere Inclusive Recovery Cities, eine davon ist Gent, andere sind in Grossbritannien, USA oder Montenegro.
Fast alle Menschen sind in Befragungen dafür, Süchtige zu unterstützen. Fast alle Menschen sagen aber Nein, wenn es in der Wohnung nebenan passieren soll. Das sei das bekannte Nimby-Prinzip – Not in my backyard, nicht in meinem Hinterhof.
Wieso nur das eine finanzieren und das andere nicht?
Dr. Ursula Koch, Vorstandsmitglied des Think Tanks fmc – Schweizer Forum für Integrierte Versorgung und Geschäftsleiterin des Inselhof, Zentrum für Kinder, Mütter und belastete Familien stellte in ihrem Referat eine rhetorische Frage, welche das Dilemma illustriert: «Warum werden bei uns im Inselhof Kinder bis 18 Jahre finanziert, aber die Mütter nicht? Wieso wird umgekehrt der Aufenthalt der Mütter in der Psychiatrie finanziert, aber die Betreuung ihrer Kinder nicht?»
Im Inselhof habe man es zwangsläufig mit sozialen und gesundheitlichen Herausforderungen zu tun, so Ursula Koch. Die Gründe für einen Eintritt seien vielfältig: «Einerseits geht es um die Sicherung des Kindswohls aufgrund Gewalt, Vernachlässigung, Aufenthalt der Mutter im Gefängnis, Sucht oder anderem.» Auch die Sicherheit der Mütter sei ein stetiges Thema und müsse durch Sicherheitspersonal gewährleistet sein (was auch wieder Kosten verursache). Der Inselhof hat eine sich ergänzende breite Angebotspalette geschaffen. Mit dieser kann man rasch und flexibel auf die Bedürfnisse des Kindes und seines familiären Systems, insbesondere der Mütter, reagieren. Rund 130 Personen arbeiten im Inselhof. Sie kommen unter anderem aus den Bereichen Sozialpädagogik, Psychologie, Psychiatrie, Betreuung, Pflege und Hauswirtschaft; alle fallführenden Mitarbeitenden verfügen ausserdem über eine traumapädagogische Weiterbildung. «Diese Betreuung benötigt eine komplexe Mischfinanzierung. Es ist aufgrund der Fragmentierung des Systems und dem Fehlen von gesetzlichen Grundlagen für die Finanzierung, bzw. der fehlenden gesetzlichen Koordinationsarbeit sehr kompliziert, in diesem interprofessionellen, übergreifenden Angebot zu arbeiten.» so Ursula Koch in ihrem Referat, in welchem sie eindrücklich aufzeigte, wie viele Stakeholder involviert sind.
Es fehlen gesetzliche Grundlagen, um unser interprofessionelles Angebot zu finanzieren.
Vom Kanton Waadt ins Tessin, über St. Gallen bis zum Brückenbauerprojekt: Vier konkrete Beispiele der Vernetzung von Gesundheit und Sozialem
Vieillir2030– die gesundheitlich-soziale Altersstrategie des Kantons Waadt
Das Programm Viellier2030 (Alt werden 2030) des Kantons Waadt basiert unter anderem auf der Tatsache, dass die Alterung der Gesellschaft schneller voranschreitet als Alters- und Pflegeheime gebaut werden können. Mit dem Ziel einer nachhaltigen Alterspolitik wurde vom Departement Gesundheit und Soziales das Programm Viellier2030 ins Leben gerufen. Dabei sollen gesundheitliche wie soziale Aspekte berücksichtigt werden. Bestehende Projekte und Leistungen werden besser koordiniert, neue Programme ermöglicht. Diese neue Strategie bündelt Kräfte, vernetzt Akteure und erleichtert die Orientierung über die verschiedenen Angebote. Als erwünschter Nebeneffekt des Programms, so berichteten die Programmverantwortlichen Caroline Knupfer und Benoît Tabin, sei zwischen den Abteilungen des Sozialdepartements und den Abteilungen des Gesundheitsdepartements plötzlich eine neue, fruchtbare Art der Zusammenarbeit entstanden.
Kantonales Tessiner Programm für die Rechte, die Gewaltprävention und den Schutz von Kindern und Jugendlichen (0-25 Jahre), 2021-2024
Die Förderung der Kinderrechte stellt für den Regierungsrat des Kantons Tessin eine Priorität dar. Deshalb wurde das Programm für die Rechte, die Gewaltprävention und den Schutz von Kindern und Jugendlichen zwischen 0 bis 25 Jahren lanciert (2021 bis 2024). Der Schwerpunkt liegt unter anderem auf den Themenbereichen Familie, Schule, Ausbildung und sozialer Raum. Von der kantonalen Koordinationsstelle wurden 21 Massnahmen definiert mit dem Fokus auf Jugendliche zwischen 18 und 25 Jahren. Die Herausforderung liege in der Koordinations- und Kommunikationsarbeit aber auch darin, dass sich Bedürfnisse von Jugendlichen oft rascher ändern würden, als man Antworten darauf habe, so die Projektleiterin Anna Vidoli. Dabei geht es etwa um Räume, wo sie sich ohne Aufsicht von Erwachsenen treffen können oder um Gewaltprävention im familiären Umfeld oder eine stärkere Vernetzung der unterschiedlichen Angebote im Kanton.
Gelingende Zusammenarbeit der Bereiche Gesundheit und Soziales am Beispiel von heb!
heb! steht für: hinschauen, einschätzen, begleiten und ist ein Früherkennungsprogramm des Kantons St. Gallen, welches hilft, Anzeichen von Belastungen bei Kindern und Jugendlichen oder eine Kindeswohlgefährdung früh zu erkennen. Dazu wurden für Fachpersonen und Fachstellen Grundlagen und Instrumente erarbeitet. Das interaktive Dokument «heb! – hinschauen. einschätzen. begleiten.» steht online auf der Website des Kantons St. Gallen allen Nutzerinnen und Nutzern zur Verfügung. Mittlerweile, so der Co-Leiter der Fachstelle Psychische Gesundheit Kanton St. Gallen, Jürg Engler, habe sich eine interdepartementale Zusammenarbeit zwischen den Departementen Gesundheit, Inneres und Bildung etabliert. Aber auch hier: Ein nicht zu unterschätzender Teil der Arbeit und damit Zeitaufwand stecke in der Koordination der Massnahmen zwischen den Departementen und den Fachstellen.
Brückenbauer:innen und Trauma
Mit dem Projekt Brückenbauer:innen & Trauma trifft Psychotherapie auf Soziointegration. Ron Halbright, Gründer des Projekts, erwähnte das Fallbeispiel eines 28-jährigen Flüchtlings aus Eritrea, der seit acht Jahren in der Schweiz lebe, unter Wahnvorstellungen leide und von der Hausärztin bis zum Sozialamt Amtsstellen und Fachleute immer wieder auf Trab halte und in der Gesellschaft nicht Fuss fassen könne. Durch eine psychiatrische Therapie wie auch der Arbeit des Brückenbauers, ein eritreischer Landsmann, war es möglich, den Klienten wieder zu stabilisieren und zu integrieren. Warum? Der Brückenbauer Shishai Haile war für seinen Klienten mehr als ein Dolmetscher, er begleitete ihn zu Amtsstellen und half ihm bei der Bewältigung des Alltags. Er verstand den kulturellen Hintergrund seiner Handlungen und konnte so zwischen Klient und Fachpersonen vermitteln. Brückenbauer entscheiden im Unterschied zu Dolmetschern autonom über Massnahmen und darüber, wie sie ihre Klientinnen oder Klienten begleiten wollen. Eine einfache soziale Massnahme mit grossen Auswirkungen auf die somatische und psychische Gesundheit der Betroffenen.
Mit spitzer Feder auf den Punkt gebracht
Am Ende der Tagung präsentierte der Cartoonist Crazy David seine Eindrücke in zahlreichen Cartoons, die er während der Stakeholderkonferenz zeichnete. Pointiert fasste er einzelne Referate zusammen und kam dabei in zahlreichen Illustrationen dem Kern der Tagung auf die Spur: Das Sozial- und Gesundheitswesen müssen die Zusammenarbeit stärken.
Fazit
Die Stakeholderkonferenz der beiden Nationalen Strategien NCD und Sucht hat gezeigt: Die Zusammenarbeit von Gesundheits- und Sozialwesen ist aufwändig, aber sie zahlt sich aus. Bei diesem Ansatz lohnt sich auch die Einbindung des Bildungswesens. Interprofessionelle Kooperationen gelingen, wenn sich die Fachleute interessiert, wertschätzend und offen für die andere Perspektive zeigen. Viel Zeit und Ressourcen sind notwendig, damit gut funktionierende Netzwerke entstehen. Zusammenarbeit muss gelernt, aber auch gefördert werden: es braucht ein Verständnis für die koordinierte Zusammenarbeit, die nicht nur auf Good Will der Praktikerinnen und Praktiker abstützen darf. Es braucht entsprechende Regelwerke, die die Zusammenarbeit ermöglichen, aber auch verbindlich machen. Interprofessionelle Arbeit leistet einen wichtigen Beitrag zur Prävention und Wohlbefinden in jeder Lebensphase. Die 30 an der Tagung präsentierten Good-practice-Beispiele bieten dafür viel Inspiration.
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